Der Erste, der sterben musste, war General Carlos Prats. Der ehemalige Stabschef des gestürzten chilenischen Präsidenten Salvador Allende fiel in Buenos Aires nur zweieinhalb Wochen nach dem Staatsstreich vom 11. September 1973 gemeinsam mit seiner Frau einer Autobombe zum Opfer.
1974 wurde der ehemalige bolivianische Präsident Juan José Torres ebenfalls in Buenos Aires ermordet.
Im Oktober 1975 wurden der chilenische Christdemokrat und Parlamentsabgeordnete Bernardo Leighton und seine Frau in Rom durch Schüsse schwer verletzt.
Im Mai 1976 wurden die beiden uruguayischen Abgeordneten Zelmar Michelini und Héctor Gutierrez in Buenos Aires ermordet.
Am 21. September 1976 fielen Allendes Verteidigungsminister Orlando Letelier und seine amerikanische Assistentin Ronni Moffit in Washington einem Sprengstoffanschlag zum Opfer.
Am 6. Dezember 1976 starb der 1964 in einem Militärputsch gestürzte brasilianische Präsident João Goulart in seinem argentinischen Exil in Mercedes unter ungeklärten Umständen.
Im Juli 1976 hörte der CIA-Bürochef in Montevideo von einem Mordkomplott gegen den damaligen Kongressabgeordneten und späteren Bürgermeister von New York, Ed Koch. Zwei Monate später informierte ihn CIA-Direktor George H. W. Bush, uruguayische Geheimdienstoffiziere hätten „seine Ermordung in Auftrag gegeben“. Als Ende des Jahres zwei Offiziere auf diplomatische Posten in Washington versetzt werden sollten, zwang das State Department die Regierung Uruguays, die Berufungen zurückzuziehen, andernfalls die Beiden „Objekte unerfreulicher Publizität werden könnten.“
Ed Koch hatte sich mit seiner lautstarken Kritik an Verfolgungen, Entführungen, Folter und anderen Verstössen gegen die Menschenrechte in den Ländern Südamerikas den Zorn der dort herrschenden Militärdiktatoren zugezogen. Zigtausende starben oder verschwanden in jenen siebziger und achtziger Jahren, ermordet, zu Tode gefoltert, über dem Meer aus Flugzeugen abgeworfen: 10 000 – 15 000 in Chile, 30 000 in Argentinien, 40 000 in Brasilien.
Ein internationales Netzwerk staatlichen Terrors
Jetzt, über dreissig Jahre später, soll sich wenigstens ein Teil der Täter erstmals vor Gericht verantworten. Am 5. März begann in Buenos Aires der seit langem erwartete Prozess, in dem ausschliesslich die „Operation Condor“ untersucht werden soll, der all diese Menschen zum Opfer gefallen waren.
Mitte der siebziger Jahre – in der heftigsten Phase des Kalten Kriegs, als „wir fürchteten, Demokratie führe zu kommunistischen Regierungen“, wie der Universitätsdozent, Journalist und Autor John Dinges einmal die antikommunistische Hysterie in der sogenannten freien Welt beschrieb – herrschten beinahe in ganz Lateinamerika, von Guatemala bis Patagonien, Militärs. Um jede abweichende Stimme zum Schweigen und jede Opposition ins Grab zu bringen, um auch ins Exil geflohene "Feinde" nicht entkommen zu lassen, taten sich die Geheimdienste, Sicherheitsorgane und Streitkräfte vor allem Chiles, Argentiniens, Uruguays, Paraguays, Boliviens und Brasiliens zusammen und organisierten ein internationales Netzwerk staatlichen Terrors, das unter dem Namen "Operación Condor" bekannt wurde und noch bis in die neunziger Jahre – lange nach der Abdankung Augusto Pinochets und seiner Diktatorenkollegen – Mordaufträge ausführte.
Vorladung Henry Kissingers
Angeführt vom chilenischen Geheimdienst DINA (Dirección Nacional de Inteligencia) bedienten sie sich der Dienste zahlreicher, dubioser Gruppierungen: der NATO-Untergrundorganisation Gladio, der argentinischen Triple-A Todesschwadron, Licio Gelli’s P2-Loge (der auch Italiens Silvio Berlusconi angehörte), französischer OAS-Putschisten, der exilkubanischen Terrororganisation CORU (Coordinación de Organisaciones Revolucionarias Unidas) oder der berüchtigten, kryptofaschistischen Colonia Dignidad des pädophilen Deutschen Paul Schäfer.
Mindestens 25 Generäle, darunter auch der 87jährige Jorge Videla, der 1976 den Militärputsch gegen die argentinische Präsidentin Isabel Martínez de Perón führte, oder der uruguayische Oberst Manuel Cordero, der die Werkstatt „Automotores Orletti“ in Buenos Aires zu einem der berüchtigtsten Folterzentren Lateinamerikas machte, stehen nun im Zusammenhang mit ihrer Beteiligung an der Operation Condor unter Anklage. Sie werden der Bildung einer kriminellen Vereinigung, zahlreicher Entführungen, Morde und Folter beschuldigt. Über 500 Zeugen werden erwartet. Ein argentinischer Richter schickte im Rahmen des Abkommens über gegenseitige Rechtsbeihilfe zwischen beiden Ländern eine formale Vorladung zur Zeugenvernehmung des ehemaligen US-Aussenministers und Sicherheitsberaters Henry Kissinger an Präsident Barrack Obamas Justizministerium. Die Obama-Administration hielt es bisher nicht für erforderlich, darauf zu antworten.
Amerikanisches Verständnis für die Täter
Alle Regierungen versuchten, die USA als unbeteiligten Aussenseiter darzustellen, der sich um die Einhaltung der Menschenrechte sorgte. Sein Stellvertreter Harry Shlaudeman hatte Aussenminister Henry Kissinger am 5. August 1976 in einem 14-seitigen Bericht über „Condor und die „Mordoperationen“ informiert: „International betrachtet scheinen die lateinamerikanischen Generäle unsere Jungs zu sein“, kommentierte Shlaudeman.
Kissinger habe sich aber öffentlich gegen die Menschenrechtsverletzungen als eine Methode der Terrorismusbekämpfung ausgesprochen und seine „tiefe Besorgnis“ über Gerüchte von koordinierten Mordplänen zum Ausdruck gebracht, liess das State Department noch 2001 verlautbaren.
Privaten Gesprächen, die Kissinger seinerzeit in den Hauptstädten am Rio de la Plata geführt hatte, ist weit mehr Verständnis für die Generäle zu entnehmen. „Wir unterstützen, was Sie tun“, zitierte John Dinges, Professor an der Columbia School of Journalism und Autor des Buches „The Condor Years: How Pinochet and His Allies Brought Terrorism to Three Continents“, den Friedensnobelpreisträger: „Wir verstehen, dass Sie ihre Autorität durchsetzen müssen. Versuchen Sie, einige Gefangene zu entlassen, ich stehe unter dem massiven Druck des Kongresses, weil die Demokraten mich zwingen wollen, die Menschenrechte zu verteidigen.“
Das FBI hatte den Mordfall Letelier wider Erwarten hartnäckig verfolgt und geklärt. Nach Aussagen des ehemaligen CIA-Agenten Michael Townley, der als Kronzeuge unter ein Zeugenschutzprogramm gestellt wurde, war Pinochet persönlich für den Mord verantwortlich. Der Ex-CIA-Agent Michael Townley hatte fünf Exilkubaner dafür angeheuert, eine Autobombe in Leteliers Wagen einzubauen. Während der Ermittlungen war die US-Bundespolizei auf die Operation Condor gestossen und hatte ihre Regierung auf die „Verschwörung“ hingewiesen. Einem 2000 verfassten CIA-Dossier "CIA Activities in Chile" ist jedoch zu entnehmen, dass DINA-Chef Manuel Contreras trotz der Erkenntnis, dass er "das grösste Hindernis für eine vernünftige Menschenrechtspolitik darstellte", auch noch lange nachdem seine Führungsrolle in der Letelier-Affäre bekannt war, auf der Gehaltsliste der CIA stand.
Deutsche Zusammenarbeit mit den Mordkommandos
Ganz oben auf der DINA-Hitliste stand der Führer der radikalen Sozialistischen Partei Chiles, der in der DDR Exil gefunden hatte, Carlos Altamirano. Ausserdem sollte auch der Christdemokrat Patricio Alywin, der sich auf einer Rundreise durch Europa befand, eliminiert werden. (Alywin wurde im Dezember 1989 zum ersten Präsidenten Chiles nach der Rückkehr zur Demokratie gewählt.) So schickte DINA gleich mehrere Teams nach Frankfurt, darunter Michael Townley und der Brigadegeneral Christoph Willeke, der 2010 für seine Beteiligung an der Ermordung General Prats‘ verurteilt werden sollte. „Willeke stellte den Kontakt zum Bundesnachrichtendienst (BND) her“, schrieb Dinges in seinem Buch „The Condor Years“. Die Verbindung sei von Mitgliedern der Colonia Dignidad arrangiert worden. Der BND und DINA hätten Listen verdächtiger Mitglieder der Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) und anderer südamerikanischer Dissidenten ausgetauscht. Townley versuchte zudem zwei rechtsradikale Gruppen in Deutschland für DINA und Operation Condor zu gewinnen.
Schon vor Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Frist wies Präsident Bill Clinton im Juli 1999 die Freigabe von nicht weniger als 60 000 Seiten bis dahin geheim gehaltener Dokumente an, die die Operation Condor betrafen. Anders als US-Regierungen, die im Rahmen des Freedom of Information Act nach einer Frist von dreissig Jahren auch geheime Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich machen müssen, kann der deutsche Bundesnachrichtendienst seine Aktivitäten stets hinter einer Wolke der Geheimhaltung aus Sicherheitsgründen verbergen. So ist kaum anzunehmen, dass die deutsche Öffentlichkeit Näheres über die Beziehungen des BND zur DINA erfahren wird.