In den nächsten Tagen muss Joe Biden entscheiden, wie es in Afghanistan weitergeht. Wie sein Entscheid auch immer ausfällt: er verspricht wenig Gutes.
Vor 20 Jahren – nach 9/11 – begann die amerikanische Invasion in Afghanistan. Seither starben am Hindukusch fast 2’500 amerikanische Soldaten; über 20’000 wurden verwundet. Der amerikanische Krieg gegen die radikalislamistischen Taliban hat ausser Opfern wenig gebracht. Im Gegenteil: die Taliban werden stärker und stärker. Sie kontrollieren heute bis zu 70 Prozent Afghanistans.
Alle amerikanischen Präsidenten versprachen, den amerikanischen Einsatz zu beenden. Präsident Trump köderte im vergangenen Jahr die Taliban und brachte sie an den Verhandlungstisch in Katar. Er erkaufte sich diesen aussenpolitischen Erfolg, indem er den Radikalislamisten grosse Konzessionen machte – dies vor allem, um vor den Wahlen mit einem Deal prahlen zu können.
Abzug am 1. Mai?
Doch die Taliban desavouierten die Regierung in Kabul und lehnten sie als Gesprächspartner bei den Katar-Gesprächen ab. Schon vor Beginn der Zusammenkunft musste die Regierung 5’000 gefangene Taliban-Kämpfer freilassen. Im Gegenzug versprachen die Taliban offenbar (das ist nicht schriftlich festgehalten), die Gewalt zu drosseln.
Das wichtigste aber war: Trump verpflichtete sich, die amerikanischen Truppen bis zum 1. Mai dieses Jahres aus Afghanistan abzuziehen. Zurzeit stehen noch 3’500 amerikanische Militärangehörige im Land (nicht 2’500, wie es offiziell heisst).
Inzwischen sind die Katar-Gespräche festgefahren. Der Grund liegt vor allem darin, dass die Taliban weiterhin Anschläge verüben. Fast täglich kommt es zu Attentaten. Opfer sind Zivilisten, Ärzte, Beamte, Journalisten. Neu ist nur, dass die Amerikaner und die Angehörigen der Nato-Truppen verschont werden.
Es wird „hart“ sein
Jetzt also steht Biden vor einem schwierigen Entscheid: Soll er die US-Truppen vor dem 1. Mai zurückziehen – oder soll er sie, angesichts der nach wie vor mordenden Taliban, weiter im Land belassen? Es werde „hart“ sein, die Soldaten vor dem 1. Mai zurückzuziehen, sagte er.
Thomas Ruttig, der Co-Direktor des „Afghanistan Analysts Network“ schreibt, die USA „faces only bad choices“. Was sie auch immer entscheiden, es ist schlecht. Jeder Entscheid führe „zu einer Eskalation der Gewalt“, sagt Ruttig.
Den Taliban ausgeliefert
Wenn die Amerikaner abziehen, könnte es eine Frage kurzer Zeit sein, bis die Taliban die Regierung in Kabul stürzen. Ohne amerikanischen Schutz ist die Regierung Ashraf Ghani den Taliban ausgeliefert. Viele glauben nicht, dass die Radikalislamisten mit der Regierung eine einvernehmliche Lösung finden wollen und einen Frieden anstreben. Vieles spricht dafür, dass sie nur Macht wollen, die ganze Macht. Sie warten nur, bis die Amerikaner abgezogen sind.
Bleiben aber die Amerikaner in Afghanistan, sind die Verhandlungen in Katar wohl definitiv gescheitert. Schlimmer noch: Die Taliban werden dann mit einer mörderischen Grossoffensive antworten. Dann würden wohl auch die Amerikaner nicht mehr verschont bleiben.
Zwanzig oder zwanzigeinhalb Jahre?
Gibt es eine Zwischenlösung? In Washington wird spekuliert, dass die USA den Abzug um ein paar Monate verschieben könnten, um den Katar-Gesprächen nochmals eine Chance zu geben. Als Gegenleistung müsste die Regierung in Kabul viele der noch festgehaltenen 7’000 Taliban-Kämpfer freilassen. Es ist mehr als fraglich, ob die Taliban darauf eingehen würden.
Zudem würde das Hauptproblem nicht gelöst. Was man in zwanzig Jahren nicht lösen konnte, kann man vermutlich auch in zwanzigeinhalb Jahren nicht lösen.
300’000 Sicherheitskräfte
In den USA sind die Meinungen geteilt. Vermehrt gibt es Stimmen, die einen schnellen Abzug fordern. Die Befürworter eines Abzugs argumentieren, in Afghanistan stünden heute über 300’000 Sicherheitskräfte. Viele von ihnen wurden von den Amerikanern ausgebildet. Sie könnten den Taliban Paroli bieten, heisst es.
Nicht alle teilen diese Einschätzung. Die afghanische Regierung taumelt schon lange. Immer mehr geht ihr das Geld aus. Wenn aber die eigenen Soldaten und Polizisten nicht mehr bezahlt werden können, so werden viele von ihnen die Front wechseln. Schon immer kämpften in Afghanistan viele Kämpfer nur so lange, wie sie bezahlt werden, und nur so lange sie glauben, dass sie gewinnen können. Diese Erfahrung machten schon die Sowjets, als viele militärische Führer zu den Mudjahedin überliefen.
Für den Abzug
Die Befürworter eines Abzugs hoffen auch, dass sich die Taliban mit der Zeit mässigen werden. Um wirtschaftlich zu überleben, sei das Land auf internationale Hilfe angewiesen. Ziel sei es, die Taliban in der internationalen Gemeinschaft zu integrieren. Bereits gebe es Anzeichen, dass die neuen Taliban-Führer pragmatischer seien als die bisherigen und sogar die Rechte der Frauen respektierten. Viele sehen das nicht so.
Wichtig sei, dass die USA nach ihrem Abzug mit den Taliban zusammenarbeiteten, um das Land vorwärts zu bringen. Die jetzt blockierten Gespräche in Katar seien die beste Gelegenheit, dies zu tun. Deshalb müsse verhindert werden, dass diese Gespräche kollabierten – und das würden sie, wenn die USA in Afghanistan bleiben. „Es macht keinen Sinn, die beste Chance für die Zukunft Afghanistans zu gefährden, indem man eine US-Militärpräsenz aufrechterhält“, sagt Charles A. Kupchan, Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown University, gegenüber CNN.
Korrupte Elite
Die Frage des Abzugs der US-Soldaten sollte von den Gesprächen mit den Taliban „entkoppelt“ werden, fordern die Befürworter eines Rückzugs. Kurz: Man zieht ab, sucht aber weiter nach einer friedlichen Verhandlungslösung. Das wirkt etwas naiv. Die Taliban werden kaum zu ernsthaften Konzessionen bereit sein, wenn die US-Truppen nicht mehr im Land stehen.
Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die Taliban mit der Regierung in Kabul gar nicht verhandeln wollen. Die Regierung Ghani sei korrupt und werde von einer korrupten, arroganten afghanischen Elite getragen, sagen die Taliban. Ganz falsch ist das nicht. Milliarden Dollar Hilfsgelder sind versickert.
Gegen den Abzug
Interessant ist, dass gerade viele Republikaner es sind, die für einen Verbleib der Truppen sind, obwohl es ihr Präsident war, der die Deadline des 1. Mai gesetzt hatte. Auch die Rüstungsindustrie und die Nato plädieren für ein weiteres Engagement.
Doch für manche geht es auch um das Ego der amerikanischen Nation. Sie haben Mühe, gegenüber der Welt einzugestehen, dass sie in Afghanistan gescheitert sind. Vor allem Militärs, so General Mark Milley, der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, setzt sich deshalb für einen Verbleib der US-Truppen ein.
Neuer Hort für Al-Kaida und den IS?
Einige argumentieren, ein Rückzug würde Afghanistan in den Schoss der Radikalislamisten treiben und das Land erneut zum Hort für Terroristen, wie Al-Kaida oder den Islamischen Staat (IS), machen. Dazu sagt Kupchan gegenüber CNN, „2021 ist nicht 2001“. Die terroristische Bedrohung aus Afghanistan habe sich in den letzten 20 Jahren „dramatisch reduziert“.
Der Abzug der US-Truppen sei „nicht nur möglich, sondern wünschenswert“. Der afghanische Geheimdienst und die Spezialeinheiten „gehören heute zu den besten in der Region und sind in der Lage, routinemässig ohne US-Hilfe zu operieren“. Nicht alle teilen diese Einschätzung.
Zweitschlechteste Lösung
Alle Indizien sprechen dafür, dass die USA ihre Truppen vielleicht schon Ende April, sicher aber bis Ende Jahr aus Afghanistan abziehen. Das ist wohl die zweitschlechteste Lösung. Die schlechteste wäre, ohne Perspektive im Land auszuharren. Viele sind der Überzeugung, dass die Lage aussichtslos ist – und dass der Krieg ohnehin nicht gewonnen werden kann. Also lieber ein Ende mit Schrecken als gar kein Ende. Viele Amerikaner haben einfach genug von diesem „so genannten ewigen Krieg“, wie Aussenminister Antony Blinken ihn nannte. Viele erinnern sich an Vietnam oder an den Irak.
Afghanistan war schon immer ein Grab für ausländische Mächte. Während der sowjetischen Invasion von 1979 bis 1989 starben nach offiziellen Angaben 27’000 Sowjets. Schon Churchill schrieb 1897 über das britische Engagement in Afghanistan: „Finanziell ist es ruinös, moralisch schlimm, militärisch offen und politisch ein grober Fehler.“
Auch Boris Jelzin hatte genug von Afghanistan. Nach dem zehnjährigen, verlustreichen sowjetischen Engagement zog er seine Truppen zurück. Was Jelzin konnte, kann Biden auch.