In Liestal braucht man flinke Beine und gute Ortskenntnisse, um nach Ankunft des Zuges aus Olten rechtzeitig die Nummer 83 nach Arisdorf und Rheinfelden zu erreichen. Kaum haben wir unseren Bus, versteckt hinter seinen grösseren Gelenk-Kollegen, gefunden, startet der Chauffeur den Motor. Wir sind nicht alleine an diesem wunderbaren Herbsttag, einem der letzten dieser Art, wie offenbar nicht nur wir befürchten. Die Wandervögel mit Stock und Rucksack sind gegenüber den Einheimischen mit Migros- und Coop-Taschen in der Überzahl. Wenn die nur nicht alle die gleiche Route geplant haben wie wir, denke ich im Stillen.
Mit der Tochter unterwegs
In engen Kehren windet sich die Strasse nach Arisdorf am Südhang des Schleifenbergs in die Höhe . Beim Stächpalmehegli – was für ein Name! – nimmt der Bus den Umweg über Hersberg. Das einstige Bauerndorf hat, so scheint es mir, den „Einfamilienhaus-Tsunami“ der 1980er- und 1990er-Jahre besser überstanden als das benachbarte Arisdorf, an dessen Rande die A2 nach Luzern dröhnt.
Meine Angst ist zum Glück unbegründet: nur wenige steigen in Hersberg aus. Zügig ausschreitend lassen wir die Häuser hinter uns, die einzigen Wanderer weit und breit. – „Wir“, das sind für einmal meine Tochter und ich. Seit ihrer Jugendzeit hat Salomé, die Naturliebende und Wetterfeste, ihren Vater immer wieder auf Wanderungen begleitet. Es sei wieder einmal an der Zeit, meinte sie kürzlich, was ich mir nicht zweimal sagen liess und sogleich einen Plan ausheckte. Der Baselbieter und Aargauer Jura gehören zu unseren Lieblingsregionen.
Zwischen Wiesen und Äckern führt der sanft ansteigende Weg nordostwärts zum Wald. Beim kleinen Passübergang zwischen Eileten und Halmet passieren wir die Kantonsgrenze von Baselland in den Aargau und kreuzen später auf dem Weg nach Schönenberg die Kantonsstrasse von Olsberg nach Magden. Nicht ohne Grund heissen hier die Weiler „Schönbühl“, „Schönau“ und „Paradieshof“: Nach Westen geht der Blick ins Tal des Violenbachs zum Dorf Olsberg, zum ehemaligen Kloster und weiter ins Rheintal, dort wo der Rhein sein Knie nach Norden beugt und die Römer vor über zweitausend Jahren auf einer Anhöhe über dem Fluss, der heutigen Pfalz, den Grundstein zur Stadt Basel gelegt haben.
Die Alten sind nicht neutral
An diesem wunderbaren Aussichtspunkt wird mir bewusst, wie sehr sich die Silhouette der Stadt seit meiner Basler Schulzeit verändert hat: Nicht mehr das Basler Münster, sondern markante Hochhäuser, allen voran dasjenige der Roche, beherrschen das Bild. – Ob zum Schlechteren oder Besseren mögen spätere Generationen beurteilen, denn die Alten sind nicht neutral, tendieren sie doch oft starrsinnig zur Bewahrung der Bilder ihrer Jugend.
Auch wenn es einen kleinen Umweg bedeutet, den Gang zum Kloster lassen wir uns nicht nehmen. Nördlich am Dorf Olsberg vorbei wandern wir an der Talflanke durch einen Rebberg zur Gebäudegruppe, welche sich etwas talabwärts vom Dorf um die Klosterkirche schart. Eine wohltuende Stille empfängt uns; sie erinnert mich an die Geborgenheit, die ich jeweils in der Kartause Ittingen im Thurgau empfunden habe, wenn ich dort mit meiner Forschergruppe eine Retraite abhielt.
Die Kirche ist offen, aber menschenleer. Man ist, wie ein herumstehender Staubsauger verrät, gerade am Putzen und wahrscheinlich nur schnell ins Pfarrhaus zum Kaffee gegangen. Der rechteckige Kirchenraum wirkt hell und für einen Barockbau wohltuend schlicht. Nur der Hochaltar und die beiden Altäre daneben erinnern den Zwinglianer daran, dass es sich um eine einstige Klosterkirche handelt. Mitten auf der grossflächigen Empore steht, ganz für sich allein und von unten kaum sichtbar, eine Orgel.
Klosteridylle mit langer Geschichte
Die heutige, liebevoll konservierte Klosteridylle lässt nicht ahnen, wie wechselvoll und turbulent die jahrhundertelange Geschichte des Klosters gewesen und wie oft es zerstört und mühselig wieder aufgebaut worden ist. Die Anfänge, so lese ich später, reichen zurück ins Jahr 1234, als Papst Gregor IV. einer Vereinigung von Frauen mit dem Namen Hortus Dei (Gottesgarten) einen Schutzbrief ausgestellt hatte. Die Gemeinschaft lebte zuerst in Kleinrot, einem Weiler zwischen Langenthal und Melchnau im Tal der Rot. Ein Jahr später sei sie in den Orden der Zisterzienser aufgenommen worden, habe 1236 das Dorf Olsberg gekauft und in der Nähe eine Klosteranlage mit Kirche gebaut – bauen lassen, müsste man wohl besser sagen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie man damals im Oberaargau auf die Idee gekommen sein möge, in der Nähe von Basel ein Dorf zu kaufen und woher wohl das nötige Kleingeld stammte. Die Mitglieder der Gemeinschaft müssen Damen aus vornehmen und finanzstarken Familien gewesen sein, zumindest die führenden, wie die Namen einstiger Äbtissinnen vermuten lassen – Romana von Tegerfelden, Katharina von Hersberg, Maria Franziska von Eptingen-Blochmont u. a. – denen ein standesgemässes Leben im christlichen Glauben ermöglicht werden sollte.
Doch irgend jemand hat die harte physische Arbeit erledigt, Kirchtürme gebaut und das Land bestellt, das Volk eben, Wanderarbeiter, Bauern und Leibeigene, ihre Frauen und Kinder, kurz die unbekannten Steineschlepper, deren Namen vergessen sind. – Doch ist das nicht mit allem so, was wir unsere kulturelle Vergangenheit nennen?
Im Laufe der ersten zweihundert Jahre nach der Gründung wuchs die Gemeinschaft stetig an Grösse und Besitz und erreichte ihre Blütezeit anfangs des 15. Jahrhunderts. Im Jahre 1427 brannte die Anlage vollständig nieder. Die Kirche und die andern Gebäuden wurden zwar wieder aufgebaut, grösser sogar als zuvor, doch danach lebten dort nur noch eine Handvoll Ordensfrauen. Der Niedergang war nicht aufzuhalten. Während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) plünderten schwedische Truppen das Stift mehrmals. Danach verlor es seine Selbständigkeit, wurde im Laufe der Zeit verschiedenen andern Klöstern angegliedert und schliesslich in der Zeit der französischen Revolution gar zu einem weltlichen Stift für adelige Damen umgewandelt. Der neu gegründete Kanton Aargau hob 1803 das Kloster schliesslich endgültig auf.
Ich schweife ab. Noch sitzen wir, meine Tochter und ich, auf einer Bank vor dem Pfarrhaus im einstigen Klostergeviert, einem Kulturgut nationaler Bedeutung, wo heute ein Schulinternat für Kinder mit Lernschwierigkeiten und ein biologischer Landwirtschaftsbetrieb untergebracht sind und die argentinische Cellistin Sol Gabetta jedes Jahr das SOLsberg Kammermusikfestival veranstaltet.
Das Rauschen der Autobahn
Auch wenn es uns schwer fällt, es ist Zeit zum Aufbruch. Vom Weg zum Frauenwald hinauf werfen wir einen letzten Blick zurück: Hinter der Klosteranlage, welche sich ins Tal des Violenbachs zu ducken scheint, geht unser Blick zum bewaldeten Hügel, hinter dem sich Hersberg versteckt. Am Waldrand türmen sich Eicheln und Bucheckern zu Wällen. Früher hätte man damit ganze Sauherden ernährt, heute wissen wir kaum mehr etwas mit diesen einst wichtigen Produkten der Natur anzufangen – wie mit anderem, den Äpfeln und Birnen von alten Bäumen, den Hagebutten, wilden Brombeeren oder den Kastanien im Tessin.
Im Vergleich zum Frühling wirkt das Vogelorchester im Walde etwas mager: Nur die vereinzelten Rufe eines Greifvogels – ein Habicht vielleicht oder ein roter Milan – unterbrechen die Stille. Dann aber – zuerst nehmen wir es kaum war – drängt sich ein anderes Geräusch in unser Bewusstsein, ein fernes Rauschen wie von Baumwipfeln im Wind, wird lauter, gewinnt an akustischer Struktur, bis es sich nicht mehr länger ignorieren lässt, das tiefe Brummen von Lastwagen, welches überlagert wird von einzelnen, die Luft zerteilenden Pfeilgeräuschen der eiligen Personenwagen.
Hinter einer Geländekante wird der Blick plötzlich frei auf die A3. Ein Zickzackweg durch steiles Gelände, wo vor Jahren ein Sturm Bäume entwurzelt und unförmige Berge von aus dem Boden gerissenen Wurzelstücken hinterlassen hat, führt uns zu einer Fussgängerbrücke über die Autobahn. Seltsam, sie habe ich in all den Jahren beim Vorbeifahren noch nie bewusst wahrgenommen.
Historische Recherchen über Rheinfelden
Jenseits der Autobahn geht der Weg zum Bahnhof Rheinfelden in eine Art Allee über, welche von Gärten und Einfamilienhäusern gesäumt ist. Das unerwartete landschaftsarchitektonische Bijou versöhnt uns mit dem hinter uns gelassenen Autolärm. Was wohl zuerst war, frage ich mich, Allee, Häuser oder Autobahn? – Swisstopo, die Schweizer Landestopografie, offeriert einen wunderbaren Service, mit dem man geografisch von der Gegenwart bis zur ersten topografischen Karte der Schweiz, der sogenannten Dufourkarte (erschienen 1845 bis 1865) zurückreisen kann. Was ich bei meinem Recherchen fand:
1849 erscheint Rheinfelden erstmals auf einem Blatt der Dufourkarte. Das Oberfeld südlich vom Städtchen, wo heute die Brauerei Feldschlösschen steht, ist völlig unbebaut. Nordöstlich vom Städtchen gibt es übrigens bereits eine Saline. 1875 taucht die Bahnlinie von Basel zum Bözberg auf der Karte auf. 1886, jetzt von der Siegfriedkarte (1870–1926) abgedeckt, entdecke ich westlich vom Weg, auf dem wir dem Städtchen zugehen, die ersten Gebäude der Brauerei Feldschlösschen, sonst ist das Land noch völlig unbebaut. Um 1900 wird der Weg zur Allee. Bei der „Stampfi“ östlich davon baut man die ersten Wohnhäuser. Sie werden dereinst ziemlich nahe an der Autobahn liegen, doch davon weiss man wahrscheinlich noch nichts. Auf der Neuen Landeskarte, welche hier ab 1950 die Siegfriedkarte ersetzt, hat der besagte Weg seine Signatur als Allee wieder eingebüsst. Auch auf der neusten Version der Landeskarte fehlt sie, wahrscheinlich aus rein kartografischen Gründen, denn die Allee gibt es ja noch, oder sie wurde neu angelegt.
Die radikalste Veränderung auf dem Kapuzinerberg, wie das Gebiet nun auf der Karte bezeichnet wird, erfolgt mit dem Bau der Autobahn. 1965 erscheint sie erstmals auf der Karte. Sie wird, wie ich mich erinnere, während Jahren in Rheinfelden enden. Die Überbauung des Gebietes mit Einfamilienhäusern erfolgt hauptsächlich ab 1985, der lärmenden Autobahn zum Trotz.
Blick auf den Rhein
Soweit die Geschichte einer Allee. – Ich hätte vor lauter historischer Detektivarbeit beinahe die zwei Wanderer vergessen. Diese haben unterdessen die Bahnlinie unterquert und sitzen nun im Innenhof des Hotels Krone in der Altstadt bei Kuchen und Bier. Die freundliche Serviererin sagt, sie sei fremd hier und könne uns daher den Weg zum Rhein nicht weisen. Aber wir finden ihn auch allein, kaum 50 Meter entfernt neben der alten Kirche. Er führt viel Wasser, die Strömung ist heftig, und mächtige Wirbel bilden an der Wasseroberfläche tiefe Trichter. Bevor wir zum Bahnhof zurückgehen, werfe ich noch einen Blick auf die Stelle im Fluss unterhalb der Brücke, wo vor vielen Jahren meine Frau und ich unser Schiff, die Solveig VII, wendeten und, ohne anlegen zu können, nach Basel zurückfuhren. Tempi passati!