Schon vor Jahrzehnten waren Benennungen von Sachverhalten unter Nachrichten-Journalisten ein Mittel, ausserhalb von Kommentaren Meinungen zu platzieren und zu beeinflussen. Ob man Rebellen als Freiheitskämpfer, Guerilleros, Regierungsgegner und dergleichen darstellte, war und ist nicht einerlei. Ähnliches lässt sich bei Ausdrücken wie Regime oder Machthaber sagen.
Heutzutage haben wir in Peking, glaubt man den meisten Medien im Westen, einen «Machthaber», während in Washington oder Bern selbstverständlich ein «Präsident» oder «Bundespräsident» residieren. Syrien oder China – und erst recht Nordkorea – sind natürlich Regimes, während ein solch negativ konnotierter Ausdruck etwa für die USA, Japan, Deutschland oder die Schweiz völlig unpassend wäre, wenngleich «Regime» à la lettre genommen ja nichts anderes heisst als Staatsform.
Anführungszeichen
Die Liste solcher Ausdrücke liesse sich lang fortsetzen. Ein akkurates Mittel der Einflussnahme etwa sind auch Anführungszeichen. Wenn zum Beispiel nach einem Anschlag in Europa oder Amerika die Polizei Terrorismus feststellt, dann ist es Terrorismus ohne Wenn und Aber, also ohne Anführungszeichen. Wenn Gleiches in China passiert wie beispielsweise mehrfach in den letzten beiden Jahrzehnten in Xinjiang, dann setzen westliche Journalisten und Redaktoren meist gerne Anführungszeichen, also «Terroristen». Man kennt ja die Chinesen, «Terroristen» sind dort nach westlichem Verständnis wohl doch eher Freiheitskämpfer. (Dazu mehr ein andermal).
Gewalt als Demokratie
Auf die seit einem halben Jahr in Hongkong andauernden Unruhen übertragen: Westliche Qualitätsjournalisten stellen dort fast unisono eine Demokratiebewegung fest. Selbst maskierte, gewalttätige Demonstranten werden als Freiheitskämpfer wahrgenommen, während die Gewalt von den Hongkonger Polizisten ausgeht. Bei den Hongkonger Bezirkswahlen von Ende November, bei denen bei einer Rekord-Stimmbeteiligung von 71 Prozent die pro-demokratischen Kräfte 60 Prozent der Stimmen und 17 von 18 Bezirksräten eroberten, titelten westliche Medien wenig verwunderlich: «Ohrfeige für Peking». Die Wahlresultate, so ist zu hoffen, mögen die «Machthaber» in Peking und Hongkong zu gründlichem Nachdenken veranlassen.
«Ein Land – zwei Systeme»
Neben der Ohrfeige war das Wahlresultat aber noch viel mehr Ausdruck der in der Hongkonger Basic Law – dem kleinen Grundgesetz – verbrieften weitgehenden Autonomie, und damit auch des vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping für Hong Kong entworfenen Prinzips «Ein Land – zwei Systeme». Das Wahlresultat ist aber keinesfalls eine Zustimmung für Gewalt.
Demonstrationsfreiheit
In Hongkong gibt es nach wie vor Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und mithin Demonstrationsfreiheit. Hongkong ist überdies nach rechtsstaatlichen Kriterien verfasst, das heisst, Hongkong hat von der Exekutive und Legislative unabhängige Richter. Allerdings gibt es in Hongkong – so wenig wie in Washington oder Bern – eine Freiheit für vermummte, vandalisierende Demonstranten, mit Backsteinen, Molotowcocktails, Wurfgeschossen und Eisenstangen gegen die Polizei vorzugehen, Geschäfte und Restaurants kurz und klein zu schlagen, den Verkehr lahmzulegen oder Feuer zu legen.
Hongkong, Paris, Barcelona
Die Hongkonger Polizei setzt dafür das ein, was im Arsenal jeder grossstädtischen Polizei – auch in der Schweiz – vorhanden ist, nämlich Tränengas, Gummigeschosse, Pfefferspray oder Wasserwerfer. Als die Hongkonger Polizei im Sommer erstmals Wasserwerfer einsetzte, taxierten das westliche Medien – auch in der Schweiz – als Eskalation der Gewalt. Wirklich? Das Vorgehen der Pariser Polizei gegen die seit einem Jahr zum Teil massiv gewalttätig demonstrierenden Gelbwesten oder das Vorgehen der Polizei von Barcelona gegen die Unabhängigkeit fordernden Demonstranten hat indes in den westlichen Medien kaum negative Kommentare ausgelöst. Dass die Polizei in Hongkong, Paris, Barcelona oder Zürich zuweilen zu viel Gewalt ausübt, wird gewiss vorkommen. Wie in jedem Rechtstaat – so auch in Hongkong – gibt es aber genau festgelegte rechtliche Mittel, exzessive Polizeigewalt zu ahnden.
Demokratiebewegung?
In Hongkong gibt es nach wie vor kein allgemeines Wahlrecht. Die Legco, das Hongkonger Miniparlament, wird nur zur Hälfte von Wählerinnen und Wählern bestimmt. Auch die Regierung wird von einem ständestaatlich zusammengesetzten Gremium gewählt. Die Regierungskandidaten müssen zudem von Peking akzeptiert sein. Das alles ist gewiss keine perfekte Demokratie. Immerhin aber besser als das, was 155 Jahre lang unter britischer Kolonialherrschaft bis 1997 ganz selbstverständlich Brauch war.
Joshua Wong
Bei den Regenschirm-Demonstrationen 2014 verpasste die Demokratiebewegung eine Chance zur Verbesserung. Allgemeine Wahlen wären möglich gewesen, freilich nur mit von China gutgeheissenen Kandidaten. Die Demonstranten, angeführt vom damals 17 Jahre alten Joshua Wong, wollten hundert Prozent und lehnten jeden Kompromiss ab. Auf die Idee, mit leeren Wahlzetteln zu demonstrieren, kamen damals leider nur wenige. Joshua Wong hat sich inzwischen wieder zu Wort gemeldet, reist um die Welt, redet mit Politikern, unter anderem mit dem deutschen Aussenminister. Und spricht sich unwidersprochen auch für Gewalt aus.
Wachsende Ungleichheit
Der Hintergrund der seit Monaten andauernden Unruhen ist nicht etwa ein Defizit an Demokratie, sondern eine desaströse Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Regierung von Carrie Lam sowie die Vorgänger-Regierungen haben kläglich versagt. Wohnraum ist kaum mehr zu bezahlen. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist weltrekordverdächtig, jedenfalls weit grösser als auf Festland-China und nochmals viel grösser im Vergleich zur Schweiz. Für die jungen Hongkonger, 75 Prozent davon absolvieren ein Hochschulstudium, sind die Zukunftsaussichten düster. Der britische Historiker Niall Ferguson hat deshalb neulich in der NZZ in einem Essay von einer «Revolution der enttäuschten Erwartungen» geschrieben. (Die NZZ hat übrigens im Oktober zu Hongkong einen bemerkenswerten Kommentar veröffentlicht, der die in den meisten westlichen Medien verbreiteten Ansichten in den Kontext stellt und ein wenig zurechtrückt.)
Öl ins Feuer
Die USA, bekanntlich uneigennütziger Vorkämpfer für weltweite Menschenrechte, giessen nun nur wenig nach dem pro-demokratischen Wahlsieg in Hongkong noch Öl ins Feuer. Ein vom Kongress verabschiedetes und von «Machthaber» Trump unterzeichnetes Gesetz zur Stärkung der Demokratie in Hongkong fordert einen jährlichen Bericht des Aussenministeriums an den Kongress, ob Hongkong noch ausreichend autonom von China ist. Ein weiteres vom US-Kongress einstimmig verabschiedetes Gesetz untersagt den Export von Tränengas, Gummigeschossen, Wasserwerfern und Handschellen an die Hongkonger Polizei. All das ist für die zu Zehntausenden friedlich Demonstrierenden ein schlechtes Omen.
«Einmischung in die inneren Angelegenheiten»
Zu Recht spricht Peking von «Einmischung in die inneren Angelegenheiten». Man stelle sich vor, der Nationale Volkskongress in Peking verabschiedete ein Gesetz zur Stärkung der Rechte von Hispanos und Afroamerikanern in den USA. Was im Westen leicht vergessen wird: Hongkong ist als Sonderverwaltungszone zu hundert Prozent integraler Teil von China. Das vom Obersten Hongkonger Gericht als nicht verfassungsmässig bezeichnete, von der Regierung Carrie Lams verfügte Vermummungsverbot zeigt klar den chinesischen Souveränitätsanspruch. Selbst China-Korrespondenten renommierter westlicher Medien haben offenbar die seit 1997 gültige Basic Law Hongkongs nicht genau gelesen. Dort nämlich ist festgelegt, dass die Verfassungsmässigkeit von Hongkonger Gesetzen letztlich vom Souverän, also China entschieden wird. Der Entscheid wird vom Rechtsausschuss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses gefällt. Das ist im Fall des Maskierungsverbots auch geschehen. Das Vermummungsverbot in Hongkong ist rechtens. Wie übrigens in vielen westlichen Ländern oder im Tessin …