Libyen hat zwei Regierungen: die international anerkannte in Tobruk und die nicht anerkannte in Tripolis. Beide bekämpfen sich. Die Uno fürchtet, dass bei einer Aufhebung des Waffenembargos die Waffen gegen die Konkurrenzregierung eingesetzt würden. Deshalb versuchen Uno-Delegierte, zunächst beide Regierungen zu einer „Einheitsregierung“ zu bewegen. Erst dann soll das Embargo aufgehoben werden.
Der IS in Sirte
Inzwischen sind Kämpfer des "Islamischen Staats" weiter auf dem Vormarsch. In Sirte erlitten die Milizen, die für die Regierung in Tripolis kämpfen, einen Rückschlag. Die Brigade 166 aus Misrata, die seit elf Wochen gegen den „Islamischen Staat“ kämpfte, musste sich zurückziehen. Sie hat den Flughafen von Sirte, einer der grössten im Land, der Terrormiliz überlassen.
Die Brigade 166 gehört zum tripolitanischen Milizenbündnis „Mörgenröte“. Ihr Kommandant, Mohamed Zadma, zog seine Einheit aus Sirte zurück, um sich auf die Verteidigung des Elektrizitätswerks von al-Khalej, westlich von Sirte, zu konzentrieren.
Zadma sagte, wenn der IS das Elektrizitätswerk erobere, könne die Terrormiliz den Krieg nach Westen bis nach Misrata ausdehnen. Bereits haben IS-Kämpfer am 30. Mai nahe von Misrata eine Strassensperre angegriffen; fünf Soldaten der „Morgenröte“ kamen ums Leben.
Kämpfen ohne Patronen?
Wenige Tage nach dem Rückzug aus Sirte zeichnete der Chef des Militärrates in Misrata, Ibrahim Beitelmal, ein düsteres Bild der Lage. Den Truppen vor Sirte sei die Munition ausgegangen. Die Soldaten seien nie entlöhnt worden.
"Sie waren gezwungen, Patronen von der lokalen Bevölkerung zu kaufen", sagte er. Manchmal sei es auch gelungen, Munition von angeblichen Soldaten der mit Tripolis rivalisierenden Regierung von Tobruk zu erwerben.
„Mit Brot und Wasser“ gegen den IS
Ibrahim Beitelmal forderte den Sicherheitsrat einmal mehr auf, das Waffenembargo aufzuheben. Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ liege auch im Interesse Europas und der ganzen Welt. Er versprach, Waffen nur gegen den IS einzusetzen – und nicht gegen die Konkurrenzregierung in Tobruk.
„Unsere Milizen“, sagte er, "sind bereit mit Brot und Wasser zu kämpfen, doch ohne Patronen können sie es nicht tun". Der Stadtrat von Misrata versprach inzwischen, die Milizionäre zu entlöhnen, doch bisher geschah dies nicht.
Neue Kompromissvorschläge
Auch die Regierung von Tobruk fordert erneut die Aufhebung des
Waffenembargos. Abdullah al-Thinni, der Ministerpräsident der Tobruk-Regierung, warf der Regierung in Tripolis vor, sie habe den Rückzug ihrer Kämpfer aus Sirte mit dem „Islamischen Staat“ abgesprochen. Gemeinsam wollten beide die Erdöl- und Erdgasvorkommen zwischen Sirte und Bengasi kontrollieren und sie so „dem libyschen Volk entziehen“.
Inzwischen versucht der Uno-Beauftragte Bernardino Leon erneut fieberhaft, die beiden sich streitenden Regierungen zu einem Kompromiss zu bewegen. Sein Team hat neue Kompromissvorschläge vorgelegt. Frühere Vermittlungsangebote waren von der Regierung in Tripolis empört zurückgewiesen worden, weil sie – so sagte Tripolis – die international anerkannte Regierung in Tobruk allzu sehr privilegiere. Die Uno-Delegierten mussten sich vorwerfen lassen, sie stünden auf der Seite der Tobruk-Regierung.
Erstmals direkte Verhandlungen
Im Anschluss daran wurde ein neuer Kompromissvorschlag vorgelegt. Dieser wurde diesmal von der Regierung in Tobruk abgelehnt.
Eine dritte Version wurde schliesslich beiden Seiten bei einem Treffen in Deutschland präsentiert. Positiv war, dass zum ersten Mal beide Seiten direkt miteinander verhandelten. Weitere Gespräche sollten in Algier und dann in Marokko folgen. Ziel wäre, vor dem 17. Juni, dem Beginn des Ramadans, eine Übereinkunft zu erzielen. Doch die Uno-Delegierten liessen bereits durchblicken, dass die Vermittlung länger dauern könnte.
Nicht repräsentative Delegationen
Beeinträchtigt wird der Prozess dadurch, dass die Delegationen beider Seiten nicht voll im Namen ihrer jeweiligen Regierung und ihrer Milizen sprechen.
Sowohl die Delegation aus Tripolis als auch jene aus Tobruk besteht aus kompromissbereiten Parlamentariern und Politikern. Doch jene, die unnachgiebig sind, kommen gar nicht zu den Gesprächen.
Wirklich entscheidend für die Chancen einer Versöhnung sind jedoch ohnehin nicht die Parlamentarier und die zivilen Politiker, sondern die Milizenchefs auf beiden Seiten. Sie bestimmen letzten Endes ob es zu einer Vereinbarung kommt. Doch diese Milizenanführer nehmen nicht an den Vermittlungsgesprächen teil. Zwar erklärten die Uno-Diplomaten, „einige“, die nicht an den Verhandlungen teilnehmen, seien zu 80 Prozent mit den Vermittlungsvorschlägen einverstanden. Wohlgemerkt nur „einige“.
Die „80 Prozent“
Bisher konnte man sich offenbar grundsätzlich „zu 80 Prozent“ auf folgende Punkte einigen
- Bildung einer einjährigen Übergangsregierung. Sie soll Neuwahlen vorbereiten.
- Beibehaltung des - international anerkannten - Parlaments
von Tobruk. Ihm wird eine beratende Versammlung, bestehend aus Abgeordneten der Tripolis-Regierung, zur Seite gestellt.
- Ernennung eines einzigen Oberkommandanten für die Armee. Alle Milizen sollen in die Armee eingegliedert werden.
Ungelöste Machtfragen
Ungelöst bleiben jedoch entscheidende Fragen wie:
- Wieviel Macht hätte die Beratende Versammlung aus Tripolis, die dem Parlament in Tobruk zur Seite gestellt wird?
- Und: wer würde Oberkommandant der Armee?
Diese letzte Frage ist besonders heikel, weil General Chalifa Haftar, der Oberkommandierende der "libyschen Armee" von Tobruk, in Tripolis als der Inbegriff allen Übels gilt. In Tobruk hingegen verfügt er über eine starke Position und wäre wohl in der Lage, sich gegen seine Absetzung erfolgreich zu wehren.
Militärisch allerdings scheint auch Haftar nicht in der Lage, den „Islamischen Staat“ zu besiegen. Auch er betont, das Waffenembargo verunmögliche einen erfolgreichen Kampf gegen die Terrormiliz.
Dominante Milizenchefs
Ob die angestrebte Einheitsregierung die Probleme Libyens lösen könnte, steht auf einem andern Blatt. Eine solche Einheitsregierung gab es schon einmal – nach dem Sturz Ghadhafis. Sie stand schnell unter Druck der Milizen und war unfähig zu regieren. Auch eine neuaufgelegte Einheitsregierung könnte wieder von den Milizenchefs dominiert werden.