Eine Ablehnung der AHV-Reform wäre ein weiterer Beweis für die Reformunfähigkeit der Schweiz, schreibt unser Autor Christoph Zollinger.
Die finanzielle Stabilität der AHV ist in Gefahr, weil geburtenstarke Jahrgänge das Pensionsalter erreichen und die Lebenserwartung steigt. Die Einnahmen der AHV werden in wenigen Jahren nicht mehr ausreichen, um alle Renten zu finanzieren. Diese einfache Prognose ist durch Fakten erhärtet (Prognostiziertes Umlageergebnis, Statistik BSV). Niemand wird bestreiten, dass bei der AHV die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen – immer mehr pensionierte Rentenbeziehende und die laufend steigende Lebenserwartung dieser Gruppe leeren die AHV-Kasse – ohne Gegenmassnahmen – bis in ein paar Jahren. Was dann?
Worum geht es überhaupt?
Am 25. September 2022 stimmt die Schweizer Bevölkerung u. a. über die Stabilisierung der AHV (AHV 21) ab. Die Reform beinhaltet eine Änderung des AHV-Gesetzes und des Bundesbeschlusses über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Die Reform hat zum Ziel, die Finanzen der AHV bis 2030 zu sichern und das Niveau der Rentenleistungen zu erhalten. Die vorgesehenen Massnahmen sehen eine Vereinheitlichung des Referenzalters von Frauen und Männern bei 65 Jahren und eine Flexibilisierung des Altersrücktritts einerseits sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer (MWST) anderseits vor. Es sind also zwei Vorlagen, die miteinander verknüpft sind: Wird eine der beiden abgelehnt, scheitert die ganze Reform.
Mehr Geld für die AHV (Zusatzfinanzierung der AHV)
Eigentlich sind sich fast alle einig, dass eine minimale Erhöhung der Mehrwertsteuer (von heute 7,7 auf 8,1 Prozent) zur Sicherung der AHV notwendig ist. Dieser Meinung ist der Nationalrat mehrheitlich, der Ständerat einstimmig.
Doch wie fast immer im Schweizerland findet eine kleine Minderheit einen Grund, um plumpe Stimmungsmache zu betreiben: Jetzt soll die Schweizerische Nationalbank (SNB) einen Teil ihrer Gewinne der AHV geben. Darum sind diese Kreise gegen die vorgesehene Lösung. Dazu eine Bemerkung: Was, wenn die SNB einen Jahresverlust erleidet?
Wer kommt auf für die Einsparungen?
Bundesrat und Parlament sind der Meinung, dass zusätzlich zu obigen Massnahmen Einsparungen nötig sind, um die finanzielle Lage der AHV zu stabilisieren. Deshalb soll das Rentenalter von Frau und Mann vereinheitlicht werden, was bedeutet, dass jenes der Frauen von 64 auf 65 Jahre angehoben würde. Diese besonders von Frauengruppen bekämpfte Lösung würde zudem finanziell abgefedert.
Damit werde einseitig auf Kosten der Frauen gespart, bemängelt das Referendumskomitee. Um diese Theorie herum wird ein ganzer Kranz von Argumenten geflochten, viele von ihnen auch fragwürdig, spekulativ oder schlicht falsch.
Wer hat den Durchblick?
Zugegeben, es ist keine einfache Abstimmung. Umso mehr muss akzeptiert werden, dass ihre Ablehnung an der Urne ein eigentliches Debakel und damit ein weiterer Beweis der Reformunfähigkeit der Schweiz wäre. Solange die Argumentationen sich Richtung längst überholtem Klassenkampf bewegen, ist das sehr bedauerlich. Was wäre denn die Alternative bei einem Nein? Niemand soll dann rasch eine neue «bessere» Vorlage verlangen – seit der 10. AHV-Reform 1995 sind alle Reformanläufe bei der ersten Säule gescheitert. Seit 27 Jahren …
Einen Funken Verständnis verdienen – dies soll anerkannt werden – jene Frauen, die ihre Pensionierung auf ein Alter von 64 ausgerichtet haben. Sie sind tatsächlich betroffen, doch gerade für diese Kreise wurde eine gestaffelte Rentenaltererhöhung über mehrere Jahre «eingebaut». Daneben ist es eine Tatsache, dass das AHV-System die Frauen nicht benachteiligt. Diese immer wieder angeführte «Benachteiligung» hat ihren Grund nicht in der AHV, sondern in unserem Sozialsystem – dies sollte beim Abwägen bedacht werden.
Es ist also falsch, die AHV für das Ziel der Gleichstellung zu missbrauchen.
Einfach dagegen
Die Linke polemisiert gegen die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Rentenalters auf 65 für Frauen. Die bürgerlichen Frauen, Befürworterinnen der AHV-Reform, sind sauer auf den Ständerat, der ihren Vorschlag zur Besserstellung der Frauen bei der beruflichen Vorsorge (BVG) bachab schickte. Die Gewerkschaften fordern – bedingt durch die rasante Teuerung – nachträglich eine ausserordentliche, nicht systemkonforme Aufstockung der Renten. Die Liste liesse sich verlängern.
Wenn Pierre-Yves Maillard (Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes) Stimmung gegen diese AHV-Reform macht und behauptet, dies sei Sozialabbau auf dem Buckel der Frauen, die ohnehin eine Rentenlücke hätten, ist dies klassenkämpferische Stimmungsmache. Dazu eine aktive Politikerin, Melanie Mettler (GLP): «Dass die Frauen weniger Rente erhalten als Männer, hat nichts mit der AHV zu tun, sondern mit der beruflichen Vorsorge. Hier gibt es den grösseren Reformbedarf als bei der AHV» (Tages-Anzeiger).
«Nein zum Rentenabbau» ist eines der Argumente der Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva. Das Gespräch im Tages-Anzeiger ist aufschlussreich. Gefragt, warum sie diese Unwahrheit sage und warum diese Irreführung, warum die Vermischung des tieferen Frauenrentenalters mit dieser AHV-Vorlage, antwortet Alleva: «Die Situation der AHV ist noch sehr solid.» Angesichts der tatsächlichen Entwicklung der nackten Zahlen eine eigenartige, entlarvende Antwort.
Besonders fragwürdig ist auch das Argument von Gegnerinnen, diese Vorlage wäre nur der Auftakt zu einem langfristigen Abbau der AHV. So argumentiert etwa Flavia Wasserfallen in der Sonntagszeitung: «Es braucht keine Rentenaltererhöhung zur Sicherung der AHV. Wegen der steigenden Arbeitsproduktivität steigen auch die Einnahmen.» Ziemlich dreiste Behauptung angesichts der belegbaren Fakten der Bundesverwaltung.
Es braucht einen Schritt zur Stabilisierung der AHV
An einer Podiumsdiskussion im August 2022 vor 200 Interessierten stellte Eveline Widmer-Schlumpf, Alt-Bundesrätin, fest: «Es braucht einen Schritt zur Stabilisierung der AHV.» «Es gibt keine valablen Alternativen», wurde sie unterstützt von Andri Silberschmidt, FDP-Nationalrat, der sich seit fast 10 Jahren für die Altersvorsorge interessiert. Ganz anderer Meinung war Cédric Wermuth, SP-Co-Präsident: «Die Frauen bezahlen die Reform», einem grossen Teil der Übergangsgeneration würde die Rente gekürzt: «Dies ist würdelos.»
Widmer-Schlumpf darauf: «Die Renten bleiben gleich hoch. Man nimmt niemandem etwas weg. Wenn Frauen und Männer in einem Bereich in der Schweiz gleichgestellt sind, dann in der AHV.» In diesem Punkt waren sich die Podiumsteilnehmer einig (Tages-Anzeiger).
Neun von zehn AHV-Bezügern profitieren vom System
Was viele Mitdiskutierende nicht realisieren, ist der gewaltige Betrag, der heute jährlich von Topverdienern zu weniger Begüterten fliesst. Da alle Einzahlenden AHV-Beiträge auf dem vollen Einkommen entrichten, die spätere Maximalrente jedoch bei 2390 Franken/Jahr limitiert ist, wird jährlich die gewaltige Summe von 22 Milliarden Franken «umverteilt». Inbegriffen darin ist auch der direkt vom Staat eingeschossene Betrag von 7 Milliarden. Diese systemspezifische Umverteilung ist bei einem Scheitern der Reform gefährdet (NZZ am Sonntag).
Das Haar in der Suppe
Die wohl wichtigste Abstimmung des Jahres 2022 ist – als Ganzes gesehen – ein Schritt in die gute Richtung. Partikularinteressen verschiedenster Gruppierungen gefährden das notwendige Ja. Dabei sollte nicht vergessen gehen, dass mit der Annahme auch der längst überfälligen Generationengerechtigkeit gedient wäre. Die grosse Frage lautet doch: Wie kann eine rasch alternde Gesellschaft ihre Renten sicher und gerecht finanzieren?
Wer das Haar in der Suppe sucht und sie deswegen wegschüttet – schade um die gute Suppe.