Das Buch ist kein Blickfang. Mit dem grauen Leineneinband und der aufgeklebten Fotografie im verschwommenen Grau will es sich fürs Erscheinen offenbar entschuldigen. Dazu passt der schüchtern klein gedruckte Titel und dazu wiederum, dass er mehr verschweigt als aussagt: „1972 – At Home and on the Way“. Immerhin verhindert der winzig beigefügte Name des Autors im letzten Schwick, das Buch wegzulegen. Es stammt vom Filmschaffenden Iwan Schumacher. Das macht zu Recht neugierig. Und erklärt das Understatement des Einbandes.
Andere sind wichtiger
Schumacher realisierte bemerkenswerte Dokumentarfilme und insbesondere starke Porträts wie über den Schauspieler Mathias Gnädinger, den Maultrommler Anton Bruhin oder die Künstler Jean Odermatt, Markus Raetz und Urs Fischer. Auch „Feuer & Flamme“ über die Kunstgiesserei St. Gallen zeigt die Begabung Schumachers, Menschen und Orte ins Zentrum zu rücken, ihre Eigenart subtil zu ergründen und sich selber zurückzunehmen.
Nur kein Aufhebens um die eigene Person. Andere sind wichtiger. Diese wahrhaftige Bescheidenheit will auch einen diskreten Buchauftritt. Das Grau des Leinen und das Schwarz der Schrift sind der Farben genug. Erfreulich, wenn jemand das Buch gleichwohl aufklappt, aber es muss nicht sein. Einspruch!
Zeitlose Qualität
Es handelt sich um einen von Theo Schifferli in schöner Schlichtheit gestalteten Band mit 124 Schwarz-Weiss-Fotografien, die 1972 in England und in der Schweiz entstanden. Wir sehen Schumachers Freundinnen, Freunde und Zufallsbegegnungen, Häuser, Strassen und Alltagsgegenstände. Zwischen den Aufnahmen und ihrer Veröffentlichung liegen mehr als vierzig Jahre. Die Fotos bestätigen ihre Zeitlosigkeit. Die Qualität der atmosphärischen Dichte altert nicht.
Die Fotografien reihen sich zu Erzählungen. Wir hören sie mit den Augen. Das fällt leicht, weil keine Bildlegenden oder gar Kommentierungen die eigene Interpretation einengen. Etwas Text – deutsch und englisch – kommt erst am Schluss des Buches, nämlich als informatives Interview, das Martin Jaeggi mit Iwan Schumacher führte und dessen Weg von der Kunstgewerbeschule Zürich nach London und von der Fotografie zum Film nachzeichnet.
Ausgangspunkt zum filmischen Schaffen
Die im Buch versammelten Bilder wurden weder inszeniert noch folgten sie einer Absicht. Schumacher brauchte seine Canon-Halbformatkamera, als wäre sie ein Handy von heute. Es war die Befreiung vom auftragsbezogenen Fotografieren an der Kunstgewerbeschule, das sich an „vorgefasste Ideen und Konzepten“ fesselte. „Ich hoffte“, sagt Schumacher im erwähnten Interview, „dass aus der Offenheit für Begegnungen eine neue Bildsprache entstehen könnte.“ Die Kamera wurde zum Notizblock – allerdings in der Hand eines Könners.
Der Buchtitel „1972 – At Home and on the Way“ entschlüsselt sich als Verweis auf den Weg von der fotografischen Enge zur künstlerischen Weite und schliesslich zum Film, der es Schumacher erlaubte, sich „länger mit einer Sache zu beschäftigen“.
Mit der fürs Buch rigoros getroffenen Auswahl aus ursprünglich 3‘000 Aufnahmen dokumentiert Iwan Schumacher aus der inzwischen gewonnenen Erfahrung den Ausgangspunkt seines filmischen Schaffens. Das ist anregend und aussagekräftig gelungen.
Iwan Schumacher, „1972 – At Home and on the Way“, 160 Seiten, Edition Patrick Frey, Zürich 2016