Einleitung: In Libyen stehen sich zwei Blöcke gegenüber:
- Im Westen des Landes, in der Hauptstadt Tripolis und ihrer Umgebung, dominiert die international anerkannte Regierung von Präsidend Fayiz as-Sarraj (sprich: Sarradsch). Er wird von der Uno, Katar, der früheren Kolonialmacht Italien und neuerdings auch von der Türkei unterstützt.
- Im Osten des Landes herrscht General Chalifa Haftar, ein Warlord, der drei Viertel des Landes unter Kontrolle hat. Er wird unterstützt von Saudi-Arabien, den Emiraten, Ägypten und Russland.
Taoufik Ouanes, Rechtsanwalt in Genf und Tunis, war lange Jahre Uno-Funktionär. Er hat enge Kontakte mit arabischen Politikern und gehört zu den profunden Kennern der Situation in Nordafrika. Mit ihm sprach Heiner Hug.
Journal21: Taoufik Ouanes, in Libyen ist plötzlich alles anders. Türkische Kräfte haben General Haftar jüngst eine schwere Niederlage beschert und ihn daran gehindert, die Hauptstadt Tripolis zu erobern. Wie stark ist Haftar noch?
Taoufik Ouanes: Ihm schwimmen die Felle davon. Saudi-Arabien und die Emirate, die ihn finanziell massiv unterstützten, haben nun schwerwiegende eigene Probleme. Die beiden Staaten erleben in Jemen ein Debakel und verlieren dort Soldaten und viel Geld. Zudem ist der Ölpreis eingebrochen. Jetzt fehlt den Saudis und den Emiraten das Geld, um auch noch Haftar zu finanzieren.
Da sind aber noch die Russen, die Haftar unterstützen.
Die Russen sind schlau. Sie haben gemerkt, dass Haftars Bedeutung sinkt. Russland unterstützte bisher Haftar mit rund 1’200 Söldnern der „Gruppe Wagner“. Dabei handelt es sich um ein privates russisches Militär- und Sicherheitsunternehmen, das Präsident Putin nahestehen soll. Die Söldner der Gruppe kommen aus aller Welt, auch aus Afrika und sogar aus Australien. Jetzt hat Putin diese Kämpfer offenbar zurückgezogen. Haftar hat also plötzlich die finanzielle Unterstützung durch die Saudis und die Emirate verloren – ebenso die militärische Unterstützung durch die Wagner-Söldner. Auch einige Milizenführer sind abgesprungen.
Wie präsent ist Russland heute in Libyen?
Die Russen haben sich in Libyen eingenistet. Sie haben versteckte Militärbasen eingerichtet, russische Kampfflugzeuge wurden gesichtet. Nachdem sich die Russen in Syrien festgesetzt hatten, setzen sie sich jetzt auch in Nordafrika fest. Russland verfolgt in Libyen strategische Ziele und wird bei Verhandlungen über die Zukunft des Landes eine entscheidende Rolle spielen. Im Moment verhalten sich die Russen zurückhaltend.
Welche Rolle spielt Ägypten?
Ägypten spielte vor allem als Speerspitze Saudi-Arabiens und der Golfstaaten eine Vermittlerrolle. Ägypten hat aber keine Waffen nach Libyen geliefert.
Wie stark sind Haftars Kräfte noch?
Er verfügte zu Beginn des Konflikts vor allem über die Waffen, die Ghadafi zurückgelassen hatte. Doch die meisten dieser Geräte sind nach dem zehnjährigen Krieg kaum mehr einsatzfähig. Also brauchte Haftar neue Waffen und wandte sich an Saudi-Arabien und die Emirate. Doch diese beiden Länder produzieren keine eigenen Waffen. Sie unterstützten Haftar vor allem mit Geld. Sie erklärten: „Da, nimm das Geld und suche dir Waffen.“ Haftar nahm mit internationalen Waffenhändlern Kontakt auf und liess sich von obskuren Waffenschiebern immer wieder übers Ohr hauen. Die Waffenhandel-Clique ist durchsetzt von Betrügern und Gangstern. Und Haftar fiel immer wieder auf sie herein. Man drehte ihm zum Beispiel völlig veraltete südafrikanische Helikopter an. Waffen auch, mit denen seine Kämpfer nicht umgehen konnten.
Das heisst aber nicht, dass Haftar am Ende ist?
Nein, das ist er nicht. Aber wegen der eingebüssten Unterstützung ist er arg in die Defensive geraten. Der türkische Aussenminister Mevlut Cavusoglu sagte am Samstag, Haftar habe die Chance für eine politische Lösung des Konflikts verpasst. Das heisst ja alles.
Wie stark sind die türkischen Kräfte?
Die Türkei verfügt über moderne Waffen. Diese werden nicht etwa ins Land geschmuggelt, sondern ganz offiziell auf dem Seeweg nach Tripolis geliefert. Erdoğan muss sich nicht verstecken, er unterstützt die von der Uno offiziell anerkannte Regierung. Das türkische Parlament hat den Einsatz in Libyen abgesegnet. Und man soll nicht vergessen : Die Türkei ist ein Nato-Land.
Wer kämpft auf türkischer Seite?
Wie weit die Türken eigene Militärs einsetzen, ist unklar. Sicher kämpfen auf türkischer Seite jetzt auch Söldner, die früher im syrischen Idlib gegen Asad und die Kurden im Einsatz waren. Nachdem sie aus Idlib abgezogen wurden, schickte sie Erdoğan nach Libyen, wo sie jetzt Haftar zurückwarfen. Die Türkei hat sich eine starke Position in Libyen erobert. Ohne die Türkei und Russland geht dort gar nichts.
Die Türkei im Westen, Russland im Osten: Könnte es zu einem militärischen Zusammenstoss zwischen den beiden Mächten auf libyschem Gebiet kommen?
Das halte ich für ausgeschlossen. Putin und Erdoğan sind ja nicht dumm.
Libyen besteht aus drei grossen „historischen“ Regionen: Tripolitanien, die Cyrenaika und das Wüstengebiet Fezzan. Man spricht jüngst immer wieder davon, dass eine Teilung des Landes in zwei oder drei Staaten eine Lösung für den Konflikt sein könnten. Sehen Sie das auch so?
Nein. Libyen ist eine grosse wirtschaftliche und strategische Einheit, auch wenn sie von verschiedensten Stämmen dominiert wird. Diese Einheit kann nicht aufgebrochen werden. Fast 70 Prozent der Bevölkerung befinden sich im Westen: in Tripolitanien mit der Hauptstadt Tripolis. Zwar gibt es auch dort Öl, aber weniger als im Osten. Dort, in der Cyrenaika, wo sich riesige Ölfelder befinden, leben nur wenige Menschen. Eine geografische Aufteilung würde bedeuten, dass der bevölkerungsreiche Westen über wenig Öl verfügen könnte – der bevölkerungsarme Osten dagegen über sehr viel. Schon deshalb ist eine Aufteilung des Landes kaum möglich. Libyen muss als Ganzes gesehen werden und der Konflikt als Ganzes gelöst werden.
Ich sehe keine Teilung des Landes, aber eine Aufteilung der Reichtümer, die im Boden lagern. Die im Land engagierten ausländischen Mächte werden bei Friedensverhandlungen sicher einen Anteil fordern.
Als Beispiel führt man oft den Sudan an, der aufgeteilt wurde, um Frieden zu schaffen.
Der Sudan kann nicht mit Libyen verglichen werden. Die Voraussetzungen sind andere. Der Konflikt im Sudan bestand vor allem deshalb, weil der Norden muslimisch und der Süden christlich ist. In Libyen gibt es immerhin ein Problem nicht: das religiöse Problem.
Libyen ist ein homogen muslimisches Land.
Die USA haben sich in Syrien an die Wand drängen lassen. Wiederholt sich jetzt das Gleiche in Libyen?
Nein. Angesichts der strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung des libyschen Konflikts können sich die USA nicht länger den Luxus leisten, bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts beiseite zu stehen.
Geht es ums Öl?
Nein. Die USA haben keine wirtschaftlichen Interessen in Libyen. Sie haben selbst genug Öl und haben enge Beziehungen zu den Öllieferanten am Golf. Trotzdem wollen die USA in Libyen nicht den Fehler wiederholen, den sie in Syrien begangen haben. Dort liessen sie sich mehr und mehr in eine Nebenrolle drängen und eröffneten den Russen die goldene Gelegenheit, im Nahen Osten wieder Fuss zu fassen.
Doch die USA wollen in Libyen keine Militärbasis errichten. Das brauchen sie nicht. Die 6. Amerikanische Flotte befindet sich ja bereits im Mittelmeer.
Was also wollen die USA?
Die USA sehen Libyen im Zusammenhang mit ganz Afrika. Deshalb engagieren sich die Amerikaner vor allem im „Africom“, im „United States Africa Command“, im amerikanischen Afrika-Kommando. Dieses hat die Aufgabe, durch Militär- und Sicherheitsberatung Kriege, Konflikte und Terrorakte in Afrika zu verhindern. Die USA werden via Africom alles daran setzen, dass die Ereignisse in Libyen nicht ihren eigenen strategischen Interessen zuwiderlaufen. Und dass die Ereignisse nicht negative Auswirkungen auf andere afrikanische Staaten haben. Viele betrachten Africom als bewaffneten Arm des amerikanischen Geheimdienstes.
Der amerikanische General Stephen J. Townsend, Kommandant des Africom, hat bei einigen Nachbarländern Libyens um die Schaffung einer „militärischen Zusammenarbeit“ geworben. Townsend sagte nach Gesprächen mit den Verteidigungsministern der an Libyen angrenzenden Länder: „Wir wissen, dass viele unserer afrikanischen Partner von böswilligen Akteuren und terroristischen Netzwerken dominiert werden ... Deshalb setzen wir uns weiterhin dafür ein, wichtige Partnerschaften zu stärken und bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zusammenzuarbeiten.“ Die Amerikaner werden sicher nicht dulden, dass sich in Libyen neue, einflussreiche IS-Zellen bilden.
Das heisst die USA halten sich im Hintergrund, schaffen aber die Möglichkeit, bei Bedarf Einfluss zu nehmen?
So ist es.
Inwiefern zieht der Konflikt in Libyen die ganze Region in seinen Strudel?
Von Libyen gehen viele Gefahren aus. Der internationale Terrorismus verfügt dort über mehrere Basen. Das Land wird immer mehr zu einem Hotspot für Waffenhändler und Söldner. Zudem ist die illegale Migration, unter der vor allem Europa leidet, längst nicht unter Kontrolle.
Wie weit ist das Nachbarland Tunesien betroffen?
Tunesien ist ein Durchgangsland für Waffen, die in Libyen zum Einsatz kommen. Die Kriegsgeräte werden via den tunesischen Seehafen Gabès und den tunesischen Flughafen von Djerba-Zarzis nach Libyen transportiert. Es sind Waffen, die sowohl für die international anerkannte libysche Regierung als auch für General Haftar und vor allem für die Söldner und Milizen bestimmt sind. Hier findet zur Zeit eine der grössten Waffenschieberei der Welt statt. Zudem werden über Tunesien Söldner nach Libyen eingeschleust.
Waffenhändler und Söldner sind zu wichtigen Akteuren im libyschen Konflikt geworden. Ein kürzlich publizierter geheimer Bericht der Uno beschreibt im Detail die kriminellen, mafia-ähnlichen Netzwerke und legt Finanzierungsquellen einzelner Akteure offen.
Ist Tunesien auch ein Rückzugsgebiet für Kämpfer?
Ja, Tunesien ist für den Krieg im Nachbarland wichtig geworden. Viele Kämpfer sammeln sich an der Grenze zu Libyen auf tunesischem Gebiet. Lazarette wurden eingerichtet, in denen sich verwundete Soldaten, Milizionäre oder Söldner pflegen lassen. Auch Militär- und Geheimdienstoperationen werden von Tunesien aus geplant.
Leidet Tunesien wirtschaftlich unter dem Konflikt?
Und wie! Tunesien betrieb früher mit Libyen einen regen Handel und lieferte vor allem Agrarprodukte und Lebensmittel in das östliche Nachbarland. Zudem fanden viele Tunesier in Libyen Arbeit. All das fällt jetzt weg. Das verstärkt die wirtschaftlichen Probleme, die Tunesien ohnehin schon hat.
Im Westen Libyens, also an der Grenze zu Tunesien, leben zwei Drittel der libyschen Bevölkerung. Wenn sich die Kampfhandlungen verstärken, besteht die Gefahr, dass ein Teil von ihnen nach Tunesien flüchtet. Dann hat Tunesien auch ein humanitäres Problem.
Der Bürgerkrieg dauert nun seit dem Sturz Gadaffis vor zehn Jahren an. Ist Libyen ein Land mit einem unlösbaren Problem?
Libyen stand jahrelang im Schatten des Krieges in Syrien. Eine Regelung des libyschen Konflikts hatte in der Agenda der wichtigsten Mächte keine Priorität. Zwar sind bereits mehrere ausländische Mächte im Land engagiert. Doch sie alle standen lange sozusagen auf Stand-by. Jetzt, wo sich die Situation in Syrien etwas stabilisiert hat, wendet man sich Libyen zu. Und findet hoffentlich endlich eine Lösung.
Sind die libyschen Politiker und Militärs überhaupt noch Herr der Lage ? Oder bestimmen die ausländischen Mächte im Land?
Sowohl die ausländischen Mächte, als auch die zahlreichen Milizen und Stämme. Jetzt sind es vor allem die Russen und die Türken, die das Schicksal Libyens bestimmen. Präsident Sarraj und General Haftar sind längst nur noch Strohmänner.
Und die Europäer?
Sie spielen eine traurige Rolle. Sie glänzen durch Abwesenheit. Es ist bedauerlich festzustellen, dass die politische und militärische Ohnmacht Europas im libyschen Konflikt zu einem immensen Glaubwürdigkeitsverlust bei den Libyern selbst, aber auch in den libyschen Nachbarländern geführt hat. Die vagen und erfolglosen Versuche der Europäer, eine Rolle bei der Lösung der libyschen Krise zu spielen, haben sich als grosser Misserfolg erwiesen. So waren die internationalen Treffen in Skhirat (Marokko), La Celle-Saint-Cloud, Dubai, Palermo oder Berlin nichts anderes als Schauplätze wiederholter Fehler und Misserfolge.
Die Europäer haben noch nicht begriffen, was in Libyen für sie auf dem Spiel steht. Die meisten Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, starten in Libyen. Doch es geht um viel mehr.
Schon im Syrien-Konflikt hat Erdoğan mit seiner Flüchtlingspolitik Europa erpresst. Er konnte die Schleusen öffnen – oder nicht. Das gleiche kann er jetzt in Libyen tun. Er dominiert wichtige Teile des Landes und kann den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer steuern und so die Europäer erpressen.
Soll also Europa den Sultan am Bosporus hofieren?
Die Türkei ist heute nicht irgendein Staat. Das Land hat einen langen Arm in den Nahen Osten und in Nordafrika. Man mag Erdoğan, diesen Sultan am Bosporus, mögen oder nicht. Doch die Europäer täten gut daran, realpolitisch zu denken und ein entspannteres Verhältnis zu Erdoğan zu suchen: ihn ernster zu nehmen und mit ihm zusammenzuarbeiten.