So hatte ich beschlossen, die stets grosszügig offerierten Chauffeurdienste meines hier ansässigen Sohnes nicht über Gebühr zu strapazieren und die Stadt für einmal zu Fuss oder mit dem öffentlichen Verkehr zu erwandern, beziehungsweise zu er-fahren. Erzählt man das einem waschechten "Angeleno", wie sie sich nennen, wird er die Idee „ weird“, verrückt finden, wenn er nett ist, oder als kranke Ausgeburt eines Vertreters von Europe-trash abqualifizieren, wenn er weniger nett ist.
Man kann L.A. bestens zu Fuss oder mit dem OeV erkunden. Man wird viel Zeit brauchen, die der hier sein Brot Verdienende natürlich nicht hat, man muss eine gewisse Hartnäckigkeit im Verfolgen seiner Ziele aufbringen und eine Dosis Gleichmut kann auch nicht schaden. So disponiert und mit gutem Schuhwerk ausgerüstet, denn man wird gelegentlich über stark beschädigte Bürgersteige balancieren müssen, erlebt man ein anderes Los Angeles. Das Umschalten vom Makro- in den Mikrokosmos, der länger verharrende Blick auf der vorbeiziehenden Realität, die Verlangsamung der Eigenbewegung, ein gelegentlich zielloses Flanieren – das alles verändert die Stadt, genauer: verändert die Wahrnehmung der Stadt beträchtlich.
Ein frischer Downtown-Morgen
In Downtown, so im Bereich von Figueroa, Hill und 6. oder 7. Street, atmet alles Luxus. Die makellosen Wolkenkratzer, Stahl, Glas, Beton, postmodern verkleidete Fassaden aus kostbaren Materialien, schwarz gekleidete Businessmänner mit Aktenmappen, die federnd die Strassen überqueren, dort wo man dazu eingeladen wird, mit einer Hand unter der Ampel, die einem die Sekundenzahl angibt, bis die Autos wieder anfahren.
Aber dann trippelt diese kleine Chinesin vorbei mit kaum gürtelbreiten Hotpants über pelzbesetzten Stiefeln, einem tief ausgeschnittenen Tigerleibchen, einem Blumentatoo unterm Haaransatz; ein paar männliche und weibliche „bums“ ziehen langsam vorbei, nehmen sich die Papierkörbe vor und hinterlassen eine herzhafte Riechspur im sehr frischen Downtown-Morgen. Und einer hält Hof. Er hat sich an der Ecke Figueroa und 7. Street in seinem Rollator häuslich eingerichtet, mit Kaffeebecher, Zeitungen, jeder Menge Plastiksäcke, in denen er seinen Hausrat aufbewahrt. Jetzt zieht der alte, in orangengraue Stammeskleider gehüllte Schwarze lächelnd einen Taschenradio aus einem seiner Säcke, lüftet grüssend die Sonnenbrille und präpariert sich fürs Morgenkonzert.
Was man die erste Welt zu nennen gewohnt ist, reibt sich an der dritten. Und im Starbuckscafé an der Ecke kommt es zur Begegnung. Da setzen sich Businessman und homeless stumm an denselben Tisch, der eine zieht sich hinter seinen Cappuccino zurück und hämmert auf seinem labtop herum, der andere blättert in ein paar Zeitungsfetzen.
Nie gesucht, nie gebraucht
Ein paar Schritte weiter gelangt man auf den Broadway. Und man gelangt nach Mexiko. Hier fällt man als Fussgänger nicht auf. Hier gehen alle zu Fuss. Die kleinen fetten Mexikanerinnen mit den ornamentalen Gesichtern, den grossen braunen Augen über blutroten Lippen; die muskelbepackten, sich in den Hüften wiegenden Caballeros oder Strassenhändler oder Mobster ( mit ziemlich stechenden Blicken, in denen man, je nach Befindlichkeit, das Dollarzeichen oder einen Revolver sehen kann). Hier findet man alles, was man nie gesucht hat und nie brauchen wird. Auch altmodischen Goldschmuck. Oder jene CDs eines verstorbenen mexikanischen Sängers, nach denen man seit Jahren vergeblich geforscht hat. Natürlich auch Reisetaschen, die man nach der ersten strapaziösen Reise wegschmeissen kann. Neben einem Sortiment von Hochzeitskleidern öffnet sich der Eingang zum Amt, in dem der „Matrimonio inmediato“ , die Sofortheirat vollzogen wird.
Städtchen in der Stadt
Aus Mexiko heraus führt einen der Broadway vorbei an Regierungsgebäuden, in unmittelbare Nachbarschaft von Gehris silbern glänzendem, wie eine überdimensionierte Blume sich öffnendem Konzerthaus und weiter in die alte Chinatown. Auch hier findet das Leben auf der Strasse statt. Man wird mit seinem schlichten-schlechten Amerikanisch erstaunt sein, einem noch schlechteren zu begegnen, einer knappen, harten Artikulation, die schroffer tönt als sie gemeint ist. Dabei hat sich die das Strassenbild beherrschende Stammkundschaft hier vor über hundert Jahren niedergelassen. Am Morgen versammeln sich faltige aber überaus bewegliche alte Männer auf dem Hauptplatz um ein grosses Brett; zwei spielen, ziehen Steine über die Linien und zehn, zwanzig schauen ihnen über die Schultern, mischen sich schreiend ein, trinken Tee um Tee, holen sich trockene Kuchen aus der einzigen geöffneten Bäckerei am Platz und beenden ihre Sätze mit jenem gesungenen, in die Höhe steigenden Ton, wie er, nach Meinung eines weitgereisten Freundes, für Südchinesen üblich sein soll.
Es wird früh still in Chinatown, wie überhaupt in vielen Quartieren von Los Angeles, die wie selbstständige Städte wirken, Städtchen in der Stadt, die dadurch ganz unübersichtlich wirkt. In Chinatown lohnt es sich, nach eingebrochener Dunkelheit ein bisschen in die zweite und dritte Reihe der architektonischen Chinoiserien zu dringen, eine Bar aufzusuchen, dort beim maulfaulen Kellner ein Glas „mrro“ (Merlot) oder „carre“ (Cabernet) zu bestellen, auf die ewigen Baseballspiele zu schauen, die hinter der Theke über den Bildschirm flimmern und den drei anderen Gästen zuzuhören. Reden tut nur einer, der angetrunkene Weisse, der den stummen Chinesen mit markigen Worten erklärt wie das sei, wenn man einen, einen einzigen Fehler gemacht, ein Rotlicht übersehen habe, zum Beispiel, dann die Busse (500 Dollar) bezahlen müsse und deshalb die Miete nicht bezahlen könne, aus der Wohnung geworfen und also homeless werde, dann natürlich nie mehr Arbeit finde und zugrunde gehe, einfach zugrunde gehe. And nobody cares. Und niemanden kümmert`s. Egal ob er die Geschichte erfunden, gehört oder erlebt hat – sie ist zweifellos authentisch und in der L.A.Times so oder ähnlich in regelmässigen Abständen zu lesen. Längst ist die dritte Welt in die sogenannte erste eingebrochen.
Hippie-Zeiten nachsinnen
Das U-Bahnnetz von L.A. müsste viel grösser sein, um die einzelnen Stadtteile wirklich zu verbinden. Die zahlreichen orangegelben Lokalbusse verkehren ziemlich unregelmässig und nie kann einem jemand sagen, wie genau man von hier nach dort kommt. Weisse sind in diesen Bussen eine verschwindende Minorität, die Chauffeure nehmen nur abgezählte Münzen. Einigen ist die Sprache als Kommunikationsmittel offensichtlich suspekt, sie lassen lieber die Hände oder nur die Daumen sprechen. Einer wollte vier Dollar von mir für eine Fahrt von ca. fünfzehn Minuten; ich machte ein verblüfftes Gesicht und er fiel vor Lachen fast unters Steuerrad.“ It was a joke“, es war ein Witz, und er gab sich mit fünfundzwanzig Cents zufrieden. Die roten Schnellbusse führen einen bequem von Downtown ans Meer nach Venice oder Santa Monica und dort kann man stundenlang am Strand spazieren, in entsprechenden Cafés vergangenen Hippie-Zeiten nachsinnen, den Surfern am Pier zuschauen oder ein paar waghalsigen Akrobaten, die nach zirkusreifen Sprüngen auf dem harten Asphalt landen.
50 Spaziergänge in einer Schachtel
L.A. zu Fuss gefiel mir täglich besser. Als ich mich auszukennen begann, kaum mehr Irrwege einschlug, fiel mir in einem Museumsladen eine Art Kartenspiel in die Hände, das sich als Fundgrube erwies. „Adventures on Foot. 50 City Walks“ heisst die hübsche und praktische kleine Kartonschachtel. Eric Hiss hat in bester amerikanischer Art – einfach und praktisch – 50 Spaziergänge in Los Angeles von ein bis zwei Stunden zusammengestellt. Jeder hat auf einer Karte Platz, auf der Vorderseite erfährt man, welcher Bus einen an den Ausgangspunkt fährt, wie man zu gehen hat und was man zu sehen bekommt. Auf der Rückseite ist eine Karte mit der Route und den zu passierenden Strassen abgebildet. So hab ich nächstes Mal viel vor!