Ich weiss, Kritik am Weihnachtsrummel ist seit Jahrzehnten ein beliebtes Thema von Jahresende-Predigten. Sie hat die Konsummaschine dennoch nicht angehalten. Sie ist nur zum Klischee breitgewalzt worden.
Unanständig tiefe Preise
Auch in indischen Breitengraden ist - punktuell - der Wohlstand eingekehrt. Der Krämer mit Hanfseilen und handgestanzten Sieben wird allmählich rar. Im kleinen Einkaufszentrum in Alibagh – es nennt sich ‚Ezy‘ (und meint ‚easy‘) – warten inzwischen schon ein Dutzend Shampoos auf Kunden. Immerhin steht der Reis immer noch in offenen Jutesäcken zum Verkauf da, und vor dem Eingang liegen viele Sandalenpaare herum; wie beim Betreten eines Tempels zieht man im Laden seine Schuhe aus.
Auch im Westen herrscht inzwischen ja das ganze Jahr hindurch ‚Endverkauf‘, gerade im Sommer, wenn auch ich mich in die Warteschlange hinter der Kasse einreihe. Nur in einem Punkt sträuben sich mir wenn nicht die Haare, so doch die Füsse: Wenn ich an einem H&M oder C&A vorbeischlendere und an die unanständig tiefen Preise denke, die sogar gewissensgeplagte Konsumenten ins Wanken bringen. Ich denke dann – wie wohl die meisten Leser dieser Kolumne – an die Orte, wo diese blütenweissen T-Shirts geschnitten und genäht werden. Sie verderben mir die Kauflust.
"Sweatshops" - eine Wortbeschönigung
‚Sweatshops‘ nennt man sie im englischen Sprachgebrauch, aber selbst diese Bezeichnung ist ein Euphemismus für die Gefängnis-Architektur, die sich in den trostlosen Vorstädten von Karachi und Dhaka ausbreitet. Es sind Blockbauten aus Rohziegeln, die monotonen Fensterreihen vergittert, die Eingänge so eng wie Notausgänge, die Flachdächer voller halbfertiger Betonpfeiler und Stahlgitter, damit rasch aufgestockt werden kann, wenn der nächste Grossauftrag von Wal-Mart ansteht.
Am 24.November brach in Dhaka beim Kleiderexporteur ‚Tazreen Garments‘ ein Feuer aus. Es ging vom Erdgeschoss aus und der emporsteigende Rauch versperrte den Arbeiterinnen jede Flucht. Gehindert wurden sie auch von der Stockwerk-Aufsicht, die die Frauen an die Arbeitsplätze zurückschickte, da es sich um einen ‚Test-Alarm‘ handle. 112 Menschen starben, an Verbrennungen, Erstickung oder dem Einatmen giftiger Gase.
Tragödien in Kleiderfabriken
Es stellte sich heraus, dass Tazreen praktisch alle vorgeschriebenen Sicherheitvorkehren unterlassen hatte: Die leichtentzündbaren synthetischen Garne waren vorschriftswidrig im Erdgeschoss gelagert, und hatten keine feuersicheren Wände. Sprinkler-Anlagen fehlten, und eine Feuerwehr-Übung war kurz zuvor nur proforma durchgeführt worden, um für eine bevorstehende Inspektion Fotos bereitzuhalten.
Noch fataler war der Brand, der zwei Monate zuvor in einer Kleiderfabrik ausserhalb Karachis ausgebrochen war, nachdem ein Boiler explodiert war. 289 Menschen, fast die Hälfte der Nachtschicht-Arbeiter, starben, weil der Gebäude-Eingang geschlossen und das Areal mit hohen Mauern umschlossen war. Auch bei ‚Ali Enterprises‘ waren die Vorschriften nur auf dem Papier erfüllt, es gab keine Notausgänge, keine Feuerlöschgeräte, und die Zufahrten für die Feuerwehr waren durch die engen Slumgassen in der Nachbarschaft blockiert. In den für 250 Werkplätze zugelassenen Räumen arbeiteten manchmal eintausend Leute, meist junge – wenn nicht minderjährige – Frauen.
Mindestlohn 37 Dollar - pro Monat
Kein Zweifel: Die Hauptschuldigen sind in beiden Fällen die Fabrikbesitzer, die alle rechtlichen Vorschriften – Pakistan hat vorbildliche Arbeitsgesetze – ignorierten, um wo immer möglich ihre Kosten zu senken. Auch die lokalen Behörden schliessen jeweils beide Augen, wenn es darum geht, die wichtigste Erwerbsquelle am Fliessen zu halten. Achtzig Prozent der Exporteinnahmen von Bangladesch kommen vom Verkauf von Bekleidungsartikeln; mit einem Erlös von 18 Milliarden Dollars ist das kleine Land hinter China das weltweit grösste Ausfuhrland von Textilien.
Auch für Pakistan sind diese der wichtigste Exportzweig. Um den Devisenzufluss nicht zu gefährden, sind nicht nur die garantierten Mindestlöhne schockierend tief angesetzt (in Pakistan bei 54 Dollars pro Monat, in Bangladesch bei 37 $). Staatliche Inspektoren werden geschmiert, und das Monitoring durch Vertreter internationaler Kunden wird durchlöchert, indem Besitzer über anstehende Stichprobenbesuche vorgewarnt werden.
Hintertreibungen und Rechtfertigungen
Arbeitsrechtaktivisten, die versuchen, die Belegschaften zu organisieren, um soziale Mindest-Standards durchzusetzen, werden vom Staat als Sozialschädlinge verfolgt. Im März dieses Jahres wurde ein bekannter Aktivist im Textil-Viertel von Dhaka von Unbekannten ermordet, nachdem er mehrmals wegen ‚Aufwiegelung‘ verhaftet worden war. In den beiden Betrieben wurde eine Reihe von bekannten internationalen Marken hergestellt, darunter Wal-Mart, Sears, Tommy Hilfiger, Gap, und Diesel. Sie wiesen Schuldzuweisungen unisono zurück.
Wal-Mart erklärte, sie habe ihre Zusammenarbeit mit dem bangalischen ‚Tazreen‘ seit einem Jahr eingestellt; sie habe nicht gewusst, dass andere ihrer Lieferanten diese Fabrik weiterhin als Unterakkordanten beschäftigten. Im Fall von Ali Enterprises erklärten die Firmen, diesem Unternehmen sei von der in New York ansässigen Stiftung ‚Social Accountability International‘(SAI) das ‚SA8000-Zertifikat‘ ausgestellt worden.
Weisswasch-Operationen
SAI selber reagierte auf das schwerste Industrie-Unglück in Pakistans Geschichte „mit Schock“. Sie gab den Schwarzen Peter weiter: Nur Wochen zuvor habe eine auf Sozial-Monitoring spezialisierte italienische Firma namens RINA die Fabrik in ihrem Auftrag besucht und ihr Unbedenklichkeit attestiert. SAI ist eine Stiftung, die von den grossen amerikanischen Kaufhaus-Ketten finanziert wird. Sie soll sicherstellen, dass ihre Lieferanten in den Billiglohnländern Minimal-Standards einhalten, sei es in bezug auf Gesundheit und Sicherheit der Angestellten, auf Kinderarbeit und Minimallöhne.
Nach diesen beiden Katastrophen müssen sich die Detailhandelsketten den Vorwurf gefallen lassen, dass NGOs wie SAI nicht mehr als kosmetische Weisswasch-Operationen sind, mit dem Ziel, ihnen keine Kunden abspenstig zu machen. Dass in den Lieferländern Behörden und Fabrikbesitzer korrupt sind, ist nachgerade ein Gemeinplatz und kann nicht als Entschuldigung gelten.
Allseitige Preisdrückerei - und die Folgen
Kurz nach dem Brand in Bangladesch spielte die in Amsterdam angesiedelte ‚Clean Clothes Campaign‘ den Medien Dokumente zu, die zeigten, dass sich Wal-Mart vor einem Jahr „aus Kostengründen“ geweigert hatte, Sicherheitsanlagen in bangalischen Textilfabriken mitzufinanzieren.
Doch liegt die Schuld nur bei Grosshandelsketten, Lokalbehörden und korrupten Fabrikanten? Es fällt doch auf, dass alle nur auf Preissignale reagieren: die Fabrikanten zahlen Hungerlöhne, um im Geschäft zu bleiben, die Exportländer wollen ihre Deviseneinnahmen steigern, unser Detailhandel will mit Billig-Angeboten Marktanteile gewinnen. Es beginnt und endet also immer beim Preis, den wir im Laden zu zahlen bereit sind. Einer der Auftraggeber von ‚Ali Enterprises‘ war die deutsche Handelskette ‚KiK‘. Das Kürzel steht für ‚Kunde ist König‘. Doch hat nicht auch ein König gewisse Verantwortungen?