Die Stollen, die von Rafah auf der ägyptischen Seite der Sinai-Grenze in den Gazastreifen hinüber führen, liegen offen zu Tage. Sie sind meist zeltartig mit Segeltuch überspannt, damit man am Stolleneingang im Schatten arbeiten kann, und wohl auch, um allzu direkte Einblicke aus der Luft zu vermeiden.
Wie ein Industriegelände
Man schätzt die Zahl der Stollen auf etwa 1200. Lastwagen bringen die zu schmuggelnde Ware auf Pisten und Schotterstrassen. Das Gelände mit den Stolleneingängen wirkt wie ein Industriegebiet mit lauter Baustellen. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Lastwagen und andere Transportgeräte sind pausenlos im Einsatz. Zahllose elektrische Leitungen führen über das Gelände, und Motoren surren und pochen.
Der Untergrundverkehr nach Gaza hat in dem vergangenen Jahr solch bedeutende Dimensionen erreicht, dass von einer Geheimhaltung der Schmuggelwege nicht mehr die Rede sein kann. Gewaltige Mengen von Zement werden auf diesen Wegen nach Gaza gebracht, wo der Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser boomt. Zement wird von den israelischen Behörden als strategisches Material eingestuft und darf offiziell nur unter strengsten Einschränkungen importiert werden.
Gaza muss nach den Zerstörungen durch den israelischen Krieg von Ende 2008 wiederaufgebaut werden, was Zement zu der mengenmässig grössten Ware macht, die unterirdisch eingeführt wird. Doch die Varietät der transportierten Güter ist gross. Was gerade am wichtigsten ist und am meisten Geld einbringt, hängt davon ab, was die Israeli jeweils an legal eingeführten Gütern aus Israel zulassen oder verweigern.
Güterbahnhof für Gaza
Tausende von Arbeitern - Ägypter und Gazioten - sind mit dem unterirdischen Import für den abgekapselten Markt von anderthalb Millionen Menschen beschäftigt. Einige Betreiber der Stollen sind schwerreich geworden. Dass der "Schmuggel" in einem derartigen Massstab möglich ist, beruht darauf, dass die Behörden auf beiden Seiten der Grenze ihn nicht nur zulassen, sondern an ihm beteiligt sind. Formell oder informell sorgen die Stollenbetreiber dafür, dass die Sicherheitsleute auf beiden Seiten profitieren.
Diese Art des Importes dauert nun schon so viele Jahre und ist so stark angewachsen, dass sie heute die Hauptindustrie am Rande der Sinai-Halbinsel bildet. Sie ist zum Wirtschaftsmotor der ganzen Region geworden. Dabei handelt es ich um eine mafiöse Wirtschaft, in der jene am meisten profitieren, die es am besten verstehen, die theoretisch bestehenden Regeln des Grenzverkehrs zu unterwandern. Neben den ziemlich offen agierenden "kommerziellen" Stollen soll es auch andere geben, nämlich "militärische". Die sind entweder weitaus besser versteckt oder als kommerzielle getarnt. Sie dienen dem Transport von Waffen, aber auch von Personen oder auch Drogen.
Störenfriede des Status quo
Das ganze Stollengewerbe ist natürlich durchsetzt mit Agenten Ägyptens, Israels, Gazas. Vielleicht sind auch welche dabei, die im Dienste von mehreren Herren stehen. Von den 35 vermummten Bewaffneten, die am 5. August die ägyptischen Grenzwächter überfielen und 16 von ihnen töteten, wird angenommen, sie seien durch die Stollen aus Gaza auf die Sinai Halbinsel gelangt, um dort ihren Anschlag durchzuführen. Sie wollten dann versuchen, mit einem gepanzerten Fahrzeug, das sie von den Grenzwächtern erbeuteten, nach Israel vorzustossen.
Dunkle Hintergründe der Untat
Manche in Kairo glauben, die ganze Aktion sei von Israel manipuliert worden. Auf Hamas ist sie jedenfalls nicht zurückzuführen, weil sie Hamas schadete. Gute Beziehungen zwischen Hamas und Ägypten liegen sehr im Interesse von Hamas; keineswegs im Interesse der israelischen Politik. Die Täter könnten ultraradikale Gruppierungen sein, die Hamas zu übertrumpfen suchten. Das könnte mit oder ohne Manipulation durch israelische Agenten geschehen sein.
Darin, dass die Täter auf die Unterstützung von Sinai-Beduinen angewiesen waren, sind sich alle Beobachter einig. Es ist auch seit Jahren deutlich, dass die Beduinen von Sinai über die Behandlung empört sind, die ihnen die ägyptischen Sicherheitsdienste unter Mubarak angedeihen liessen, und dass sie daher auf Rache sinnen.
Die Stollen zerstören?
Manchmal zerstören die Israeli einen der Stollen. Das geschieht meist aus der Luft und fast immer unter Verlust von Menschenleben. Warum sie welche Stollen unter vielen Hunderten auswählen, wissen allein sie – oder sie glauben es zu wissen. Die Informationen müssen auf ihre Agenten und Spitzel zurückgehen.
Neuerdings - seit dem Angriff auf die ägyptischen Grenzwächter und Mursis Eingreifen gegen die "Nachlässigkeit" der dortigen Geheimdienste und der Militärpolizei, das seiner Absetzung der ägyptischen Armespitzen voranging - haben auch die ägyptischen Militärs gelobt, sie würden "alle Stollen" zerstören. Einige sollen auch wirklich zerstört worden sein. Viele andere liegen zur Zeit still. Die Bestände der Zementdepots in Gaza nehmen aber rasch ab.
Doch die Militärs geben nur spärliche Kommuniqués über ihre Aktivitäten an die ägyptische Presse ab. Direkte Einblicke in ihre Tätigkeit dürfen die Journalisten nicht nehmen. Sie sammeln natürlich Indizien dafür, was vor sich geht, und sie zeigen sich eher skeptisch gegenüber den offiziellen Darstellungen, die von „blutigen Schlachten“ auf Sinai sprechen.
Die Lebensader von Gaza
Die Import-Export-Industrie unter der Erde hat sich so stark entwickelt und ist so tief in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität der Grenze und ihrer Bevölkerung eingedrungen, dass sie kaum ausrottbar scheint. Natürlich, wenn Ägypten die Grenze nach Gaza öffnen sollte, wäre es mit dem Schmuggel vorbei, und die Gazioten müssten nicht mehr die Aufpreise zahlen, von denen die ganze heutige Grenzregion lebt und sich in einigen Fällen regelrecht bereichert.
Doch wenn Ägypten wirklich seine Grenze nach Gaza öffnete, müsste Kairo erwarten, dass Israel sich nicht mehr für Gaza zuständig erklärt. Es würde Kairo für alles verantwortlich machen, was im Gazastreifen geschieht, und es würde zweifellos noch intensiver als heute mit grossen und kleineren Aktionen gegen tatsächliche oder vermutete Machenschaften in Gaza durchgreifen.
Wer trägt die Verantwortung für Gaza?
Kairo müsste versuchen, den kochenden Kessel von Gaza am Überkochen zu hindern, wozu Kairo zum mindesten die volle Befehlsgewalt über den Streifen übernehmen müsste. In Ausschaltung oder in Zusammenarbeit mit Hamas? Doch Hamas möchte weder ausgeschaltet noch untergeordnet werden. Es besitzt die Herrschaft über den Streifen und gedenkt schwerlich, diese ganz oder teilweise abzutreten. Kairo ist seinerseits kaum daran interessiert, seine Herrschaft über Gaza zu errichten. Dies ginge nicht ab, ohne die ägyptische Armee dort zu stationieren, wie dies in den Jahren 1948 bis 1967 der Fall war (mit einem kurzen israelischen Zwischenspiel gegeben durch den Suezkrieg von 1956). Doch die ägyptische Armee in Gaza wäre durch das Friedensabkommen mit Israel aus dem Jahre 1979 verboten.
Die gegenwärtigen ägyptischen Armeeaktionen in Sinai, was zu Ägypten gehört, werden wegen der Einschränkungen für ägyptische Truppenpräsenz und Bewaffnung in verschiedenen Zonen der Halbinsel, die in diesem Friedensabkommen stehen, in Absprache mit Israel, gewissermassen mit einer Sonderbewilligung Israels, durchgeführt.
Kann die Grenze geöffnet werden?
Eine volle Öffnung der Grenze nach Ägypten würde über kurz oder lang wahrscheinlich den gesamten Gazakomplex in Bewegung bringen. Ist Gaza eigentlich "Israel", oder "Palästina", oder einfach der Herrschaftsbereich von Hamas über ein Stück Palästina, das eigentlich zum übrigen "Palästina" gehört, aber doch nicht zu ihm, weil es unter einer abgesonderten Herrschaft steht? Palästina gilt der heutigen israelischen Regierung nicht als ein Staat, auch nicht als ein künftiger Staat, sondern wird als eine "Entität" gesehen, deren mögliche Autonomie noch auszuhandeln wäre. Die Grenzen dieser möglichen Autonomiegebiete, welche die Palästinenser nicht zu Unrecht Bantustans nennen, möchte Israel kontrollieren.
Die Palästinenser und die internationale Staatengemeinschaft sehen dies anders. Soll Ägypten in der Zwischenzeit wieder eine provisorische Verantwortung für Gaza übernehmen? Kann es das, ohne den Friedensvertrag mit Israel zu brechen? Der Knäuel ist dermassen unentwirrbar und gleichzeitig hochexplosiv, dass zunächst einmal niemand daran rühren mag.
Das Untergrundimportwesen ist ein Ersatz für die verriegelte Grenze. Aber daran allzu energisch zu rühren, wäre gefährlich. Die Ägypter auf ihrer Seite und Hamas auf der seinen, werden es zu kontrollieren suchen. Im Gegensatz zur Mubarak-Zeit stehen heute die beiden Mächte miteinander in Kontakt. Es wäre logisch, wenn sie beide die Regulierung der Untergrundimporte gemeinsam vornähmen. Falls sie sich zu einer Zusammenarbeit finden können. Für die regulären Stollen wäre es einfach, sie unter Kontrolle zu bringen, gewissermassen zu lizenzieren. Für die irregulären mit Kriegsgütern wäre das schwieriger.
Ein Provisorium von Dauer
Freilich, wenn lizenzierte Untergrundimporte nach Gaza gehen, warum nicht gleich auch ein geregelter Import oberirdisch über die Grenze? - Weil die Israeli dagegen sind? Ist die Gaza-Grenze Israels Grenze oder jene von Gaza, oder gar Palästinas? Auch daran zu rühren, wird explosiv.
Zunächst wird daher wohl das bisherige Provsorium mit den unterirdischen Ersatzimportwegen andauern. Doch es ist nicht mehr gleich solide, wie es unter Mubarak war. Damals galt offiziell: "Wir Ägypter boykottieren Hamas und halten daher die Grenze geschlossen". Von den Untergrundstollen "wissen wir nichts" (obwohl und gerade weil wahrscheinlich manche unserer Funktionäre und Offiziere von ihnen kassieren). Heute gilt eher: die Grenze sollte wieder geöffnet werden, Hamas sind palästinensische Brüder. Wenn das aus realpolitischen Gründen zur Zeit nicht geht, weil es zu gefährlich würde, benützen wir vorläufig weiter die Stollen.