Die Weltkartoffelkonferenz – ja, das gibt es tatsächlich – fand vor vier Jahren in Peking statt. Nicht von ungefähr. Chinas Regierung nämlich macht sich seit Jahren grosse Sorgen um die Ernährungssicherheit des 1,38-Milliarden-Volkes. Nicht von ungefähr, denn schliesslich verfügt das Reich der Mitte nur über ein Zehntel des weltweit verfügbaren Ackerlandes und muss damit ein Fünftel der Menschheit ernähren. Zwar stiegen mit der vor vierzig Jahren eingeleiteten Wirtschaftsreform auch die Getreideernten beträchtlich. Doch trotz der Rekordernte von 607 Millionen Tonnen (2014) mussten zusätzliche 100 Millionen Tonnen auf dem Weltmarkt besorgt werden, vor allem Soja, Reis, Weizen, Mais, Gerste, Hirse, Speiseöle und Zucker.
Sicherheit
Die Erträge im eigenen Land an Reis, Weizen und Mais sind mittlerweile fast ausgereizt. Bis 2020 zum Beispiel sind insgesamt 650 Millionen Tonnen nötig, um die Bevölkerung zu ernähren. Nach Berechnungen der Weltbank werden im Jahre 2030 über 700 Millionen Tonnen für eine Bevölkerung von 1,5 Milliarden Einwohnern nötig sein.
Sicherheit der Ernährung hat für Chinas Partei und Regierung oberste Priorität. Bereits 2016 hiess es unheilschwanger im «Shishi Chubanshe» (herausgegeben vom Parteiverlag), dass eine Krise der Nahrungsmittelversorgung für das Land bedrohlicher sein könnte «als einst der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks».
Die grosse Hungersnot
In China hat Essen historisch bedingt einen ungleich höheren Stellenwert als anderswo. Hungersnöte dramatischen Ausmasses haben in der langen Geschichte immer wieder zu traumatischen, im kollektiven Bewusstsein verankerten Erlebnissen geführt. Die letzte grosse Hungersnot liegt noch nicht lange zurück. Während des von Mao Dsedong veranlassten utopischen «Grossen Sprungs nach vorn» (1958–61) verhungerten je nach Schätzung zwischen 30 und 45 Millionen Menschen.
Strategisches Schwerpunktprojekt
So spielt seit 2015 die Kartoffel als strategisches Schwerpunktprojekt in der staatlichen Planung eine wichtige Rolle. Das Landwirtschaftsministerium preist deshalb das Nachtschattengewächs als «ideales Nahrungsmittel». Tudou, die chinesische Erdbohne, gedeihe unter «kalten, trockenen und unfruchtbaren Bedingungen» und könne besonders im Süden auf brachliegenden Feldern auch im Winter angebaut werden. Die Knolle sei zudem vitaminreich, fettarm und sättigend, vom Nährwert her dem Reis durchaus gleichzustellen.
Forschung
Der Wasserbedarf sei ein Drittel geringer als etwa bei Reis oder Weizen. Für Kartoffel-Saatgut erhalten Bauern staatliche Subventionen. Das Landwirtschaftsministerium fördert mit Nachdruck auch die Forschung mit Schwerpunkt neue Kartoffelsorten, die gegen Seuchen resistenter sind und sich speziell für den trockenen Boden Nord- und Westchinas eignen.
Der Reis-Nudelgraben
Die in den südamerikanischen Anden heimische Kartoffel kam zu Beginn des 17. Jahrhunderts über Europa auf der Seidenstrasse und über den Pazifik via die Philippinen ins Reich der Mitte. Ungleich dem ebenfalls südamerikanischen Mais jedoch schaffte es die Kartoffel nie richtig auf den chinesischen Speiseplan. Bis heute. Seit altersher durchzieht ein Nudel-, beziehungsweise ein Reisgraben das Land von Ost nach West entlang des Yangtse-Flusses. Nördlich davon werden vor allem Nudeln und chinesische Ravioli (Jiaozi) gegessen. Südlich davon ist Reis unbestritten das bestimmende Lebensmittel.
Essen für arme Leute
Und doch produziert China mittlerweile ein Viertel aller Kartoffeln weltweit und ist mit rund 100 Millionen Tonnen vor Russland und Indien der weltweit grösste Kartoffelproduzent (Schweiz 460’00 Tonnen/Jahr). Der Pro-Kopf-Verbrauch freilich beträgt vergleichsweise klägliche 31 Kilogramm pro Jahr (Russland 170 kg, Schweiz 46 kg). In unzähligen Kochshows am staatlichen Fernsehen werden leckere Kartoffel-Rezepte propagiert – mit bescheidenem Erfolg. Nicht als Sättigungsbeilage, sondern als Gemüse wird die Knollenfrucht vor allem genossen, zum Beispiel als Tudousi, fein in Streifen geschnittene Kartoffeln mit etwas Essig und Öl angerichtet. Lecker. Doch wie einst in Europa gelten Kartoffel-Gerichte als Essen für arme Leute. Dazu kommt, dass der Ausdruck des Nachschattengewächses auch als Schimpfwort für korrupte Beamte benutzt wird …
Gesund und ausgewogen
Der Regierung allerdings ist es ernst mit dem strategischen Schwerpunkt Kartoffel. Sowohl der gnadenlose Anti-Korruptionskampf als auch die Förderung des in China nicht wohlgelittenen Lebensmittels zeugen davon. Zudem hat schon vor zehn Jahren die Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO die Knollenfrucht als Nahrungsmittel gelobt, mit dem es am ehesten gelingen könnte, die Ernährungsprobleme auf der Welt zu meistern. Peking möchte einem gesünderen und ausgewogeneren Ernährungsverhalten zum Durchbruch verhelfen und gleichzeitig die Nahrungsmittelsicherheit erhalten.
Knapp geniessbar
Doch der Weg wird lang und mühsam sein. Essgewohnheiten verändern ist überall schwer, und in China ganz besonders. Neulich genoss Ihr Korrespondent mit chinesischen Freunden Mantou (Dampfbrötchen) und danach Miantiao (Nudeln). Stolz wies der Koch darauf hin, dass er dabei dreissig Prozent Kartoffelmehl verwendet habe. Das Verdikt der Chinesinnen und Chinesen, aber auch des Europäers, war eindeutig: Weizen-Mantous oder Reis-Miantiaos sind köstlich, mit Kartoffelmehl versetzt allenfalls knapp geniessbar.
Trost von König Friedrich
Chinas Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping mag bei König Friedrich dem Grossen Trost suchen und Hoffnung finden. Im 18. Jahrhundert erliess der preussische König den berühmten «Kartoffel-Befehl», um seinem widerwilligen Volk – wie heute Xi den Chinesen – das «auf sehr vielfache Weise dienliche Erdgewächs» schmackhaft zu machen. Das ist dem König wohl gelungen, zieht man die deutsche Küche in Betracht. Dass China punkto Kartoffel langfristig plant, zeigte neulich auch die Tatsache, dass auf der neuesten Mond-Mission ein Behälter mit einigen Kartoffelknollen mitgeführt worden ist.
Der Röstigraben
Noch mehr Hoffnung kommt aus Westchina. Die Pekinger Parteiführung hat wohl übersehen, dass neben dem Nudel- und Reisgraben noch ein Röstigraben das Land durchzieht. Dieser trennt die westliche Provinz Yunnan vom Nudel- und Reisland ab. Die Knollenfrucht wurde einst von den französischen Kolonialisten nach Vietnam, südlich von Yunnan, importiert, wo bis auf den heutigen Tag mit Genuss Pommes frites verzehrt werden. Im 19. Jahrhundert versuchten die Franzosen zwecks Geschäften nach Norden zu expandieren. Dabei nahmen die französischen Gourmands und Gourmets auch ihre Pommes mit. Allerdings, wie sich heute zeigt, mit wenig Erfolg. Durchgesetzt haben sich vielmehr klein gehackte Bratkartoffeln, im schweizerischen Alpenraum auch Rösti genannt. Ihr Korrespondent hat Yunnan-Rösti oft etwa in Kunming oder Shangri-la genossen. Die beste Rösti auf der Welt. Östlich von Trubschachen jedenfalls.
Unterdessen müssen in der Grossstadt Chengdu (Provinz Sichuan) Studentinnen und Studenten in der Uni-Kantine, von der Obrigkeit angeordnet, dreimal am Tag Kartoffeln essen. Zum Zmorge, zum Zmittag, zum Znacht. E Guete!