Hellseherische Fähigkeiten sind nicht erforderlich um vorauszusehen: Die EU wird es sehr, sehr schwer haben, um die sogenannten Deckel für den Öl- und den Gaspreis durchzusetzen.
Die US-Regierung stösst auf ähnlich massive Schwierigkeiten beim Versuch, weltweit die Erdöl-Fördermenge auf ein Niveau zu heben, das zu einer Stabilisierung der Benzinpreise für amerikanische Konsumentinnen und Konsumenten bis zum Tag der Zwischenwahlen (8. November) führen könnte. Wenn das nicht gelingt – und nichts spricht dafür, dass es gelingt –, droht den US-Demokraten und damit auch Präsident Biden ein Debakel. Warum? Nun, schon Bill Clinton sagte es: «It’s the economy, stupid.»
Den Geldhahn zudrehen
Dass die in der Opec+ zusammenarbeitenden Länder am Mittwoch, nach ihrer Tagung in Wien, ihren Beschluss bekannt gaben, die tägliche Öl-Fördermenge um zwei Millionen Fass pro Tag zu kürzen, ist ein herber Rückschlag für all jene Staaten, die Putins Kriegsmaschine durch Sanktionen zum Stillstand bringen möchten. Das war oder ist ja das Ziel der Europäischen Union, der mit ihr zusammenwirkenden Neutralen in Europa, der USA, Kanadas, Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands: Russland den Geldhahn so weit zuzudrehen, bis der Kreml den Krieg gegen die Ukraine nicht mehr finanzieren kann. Bisher ist das bekanntlich nicht gelungen – Russland kassiert, im Gegenteil, mehr Milliarden für sein Öl und Gas als vor dem Krieg, also vor der Verhängung der Sanktionen. Nach mehr als 220 Tagen Krieg jedoch ist klar: Nur wenn es gelingt, eine Obergrenze der Preise für Öl und Gas international durchzusetzen, gibt es eine Chance, dass weniger Geld in die vom russischen Staat kontrollierten Konzerne fliesst. Sonst steigen die Preise weiter, und der Kreml wird täglich reicher.
Also: Über die Grenzen der pro-Ukraine und anti-Russland engagierten Staaten hinaus müsste der «Deckel»-Mechanismus funktionieren, also wohl auch in weiten Bereichen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Doch die Chancen dafür sind nicht einmal minim, sie sind schlicht nicht vorhanden. China macht auf keinen Fall mit, Indien mit seinen eineinhalb Milliarden Menschen ebenso wenig. Und die mittelöstlichen Regierungen? Sie sind weit davon entfernt, sich in irgendeiner Weise mit den «Westlern» gegen Russland zu engagieren. Saudi Arabien, jahrzehntelang als Interessen-Alliierter der USA und der meisten Länder Westeuropas betrachtet, distanziert sich mit dem Öl-Reduktionsentscheid innerhalb von Opec+ auf bereits provokative Weise von der einstigen (illusorischen?) Solidarität. Die Vereinigten Arabischen Emirate ziehen mit – sie wollen ihre Rolle als sicherer Hafen für russische Gelder nicht aufs Spiel setzen. Im Schlepptau der Saudis und der VAE befindet sich dann, beispielsweise, auch noch das bei Touristen aus der Schweiz so beliebte Oman, «Märchenland» des Orients.
Was bleibt der Interessengemeinschaft jener Staaten, die Putins Angriffskrieg zum Stillstand bringen möchte, an Handlungsspielraum noch übrig? Die Regierungen suchen die unmögliche Quadratur des Zirkels: harte «Kante» gegenüber Moskau, weiche «Kante» anderseits gegenüber den wirtschaftlichen Realitäten innerhalb der eigenen Grenzen. Also: möglichst schnell Terminals für Flüssiggas erstellen, möglichst viel umfassende Abkommen für die Lieferung von Gas und Öl mit irgendwelchen Ländern irgendwo auf der Welt unterschreiben.
Neue Probleme, neue Fragen
Doch schon zeichnen sich neue Probleme mit neuen Fragestellungen ab: War oder ist es wirklich politisch klug, Verträge mit Aserbaidschan zu unterzeichnen – mit der autoritär handelnden Regierung jenes Landes, das eben wieder damit begonnen hat, Armenien zu attackieren? Die EU hat sich da bereits entschieden – wer das rückhaltlos kommentieren möchte, kann versucht sein, Brecht zu zitieren: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» In den politischen Zirkeln der USA anderseits gibt es Diskussionen um das Für und Wider einer Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Venezuela. Verständlich: Venezuela hat weltweit die grössten Erdöl-Reserven, fördert allerdings derzeit nur etwa 700’000 Fass täglich. Das könnte geändert werden, mit nicht allzu massiven Investitionen. Aber kann ein Deal mit Caracas den US-Wählerinnen und -Wählern auch so «verkauft» werden, dass die Weichenstellung nicht als Schwäche der Regierung erscheint?
Die (noch zaghafte) Debatte um einen (wir würden sagen) Kuhhandel mit dem Regime von Nicolas Maduro ist ähnlich von einer Verwedelungstaktik überschattet wie die Diskussionen in Europa zum Für und Wider von, beispielsweise, einem Öl- und Gas-Liefervertrag mit Ilham Aliyev, dem Herrscher von Aserbaidschan. «Eigentlich» möchten wir ja alle nur mit der Demokratie verpflichteten, «anständigen» Politikern Geschäfte machen. Doch – schon wieder Brecht – «die Verhältnisse, sie sind nicht so».
Gilt auch für uns in der Schweiz. Socar, die Tankstellenkette von Migrolino, gehört zumindest indirekt dem Staat Aserbaidschan. Der nach eigenem Gutdünken die Kanonen gegen Ortschaften auffahren lässt, die von Armeniern bewohnt werden.