
Am Morgen des 27. Februar traten Abgeordnete der türkisch-kurdischen Partei für Freiheit und Demokratie des Volkes (DEM) in einem Hotel in Istanbul vor die Presse und verlasen eine Erklärung des seit 1999 inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, auf Kurdisch und Türkisch. Dieser forderte das Ende des bewaffneten Kampfes seiner Organisation.
Die Delegation hatte Öcalan zuvor auf der Gefängnisinsel İmralı besucht. Unter dem Titel «Aufruf zum Frieden und zur demokratischen Gesellschaft» lehnte Öcalan das Festhalten an einem separatistischen kurdischen Ethnonationalismus ab und forderte die Schaffung einer inklusiven demokratischen Ordnung in der Türkei. Die knapp fünfminütige Verlesung der Erklärung wurde mit grossem Beifall aufgenommen. Demonstrativ wurde der Text vom Bürgermeister von Mardin, Ahmet Türk, auf Kurdisch verlesen, erst dann folgte die türkische Verlesung der Erklärung durch die DEM-Abgeordnete Pervin Buldan.
Neue Perspektiven für die türkischen Kurden?
Eigentlich hatte der bald 76-jährige Öcalan die Erklärung selbst verlesen wollen, die Behörden hatten sogar eine Übertragung der Verlesung als Public Viewing in türkisch-kurdischen Städten ins Auge gefasst. Doch die politischen Institutionen stellten sich quer. Es blieb bei der Verlesung durch die Abgeordneten der DEM. Doch auf den Strassen der Städte im Osten des Landes feierten die Menschen das Geschehen wie ein politisches Grossereignis.
Die Erklärung Öcalans war seit langem überfällig. Bereits in der Zeit des Waffenstillstands von 2013 bis 2015 hatte Öcalan die nun explizit gemachten Vorstellungen von einer politischen Zukunft der Kurden in der Türkei angedeutet. Die Aufstellung der PKK-Verbände in Nordostsyrien als «Volksverteidigungseinheiten» (YPG), die als bewaffneter Arm der 2003 noch im Nordirak gegründeten Partei der Demokratischen Union (PYD) gebildet worden waren, hatte eine neue strategische Ausgangslage für die PKK geschaffen.
Mit der Machtübernahme im Nordosten Syriens verfügte das PKK-Netzwerk nun über eine eigene Operationsbasis. Ihr kriegerisches Eingreifen gegen die Fraktionen des Islamischen Staates in Nordsyrien verschaffte der YPG/PYD eine neue Form der Legitimität, von der auch die PKK-Kernformationen profitierten.
Erdogan schickt seinen Juniorpartner vor
Doch diese Ordnung drohte im Herbst 2024 zu kippen. Die türkische Regierung kalkulierte mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs des Asad-Regimes angesichts der Schwächung der iranisch geführten Achse des Islamischen Widerstands im Libanon und in Syrien. Eine Offensive der HTS von Idlib aus wurde bereits für August 2024 erwartet. Diese verzögerte sich bis Ende November, aber die türkische Seite wollte vorbereitet sein. Dazu gehörte auch ein Rückbindung oder gar eine Einbindung der YPD, die wie die PKK informell von der Achse des Islamischen Widerstands und des russischen Militärs unterstützt wurde.
Angesichts der komplexen politischen Stimmungslage schickte Erdoğan dafür den Juniorpartner seiner Regierung, den Chef der ultranationalistischen Nationalen Volkspartei (MHP), Devlet Bahçeli, vor. Dieser traf sich demonstrativ am 1. Oktober 2024 zur Eröffnung der Grossen Nationalversammlung der Türkei mit dem Ko-Vorsitzenden der Partei DEM. Erdoğan brauchte die Gunst der DEM gleich doppelt: um die YPG zu integrieren und um eine parlamentarische Mehrheit für eine Verfassungsreform zu finden, die ihm eine weitere Amtszeit als türkischer Staatspräsident ermöglichen sollte.
Dass er dafür ausgerechnet den Ultranationalisten Bahçeli inszenierte, zeigt, wie ernst es Erdoğan war. In der Folge entwickelte sich eine Pendeldiplomatie zwischen Öcalan in İmralı und der DEM. Der Zusammenbruch des Asad-Regimes und die brisante militärische Lage im Nordosten Syriens, wo die YPG mit fast 60’000 bewaffneten Kämpfern gegen die Versuche einer Machtübernahme durch das HTS-Regime in Damaskus bereitstanden, hatten die strategische Lage grundlegend verändert.
Freilassung Öcalans?
Der Schutz durch die Achse des Islamischen Widerstands war weggefallen, aber es war unwahrscheinlich, dass sich die Truppen der HTS-Milizen gegen die gut ausgebildeten Einheiten der YPG hätten durchsetzen können. Dies wäre nur mit massiver türkischer Militärhilfe möglich gewesen. Doch die türkische Regierung scheute die Kosten. Billiger war es, eine Situation zu schaffen, in der sich die PKK selbst entwaffnet. Da der neue Übergangspräsident Syriens, der HTS-Kommandeur Ahmad al-Sharaa, mit einem politischen Modell nach türkischem Vorbild liebäugelte, hofften die türkischen Strategen, dass ihnen die Verwirklichung ihrer Ziele wie ein reifer Apfel in den Schoss fallen würde.
Doch dafür war die Mitwirkung Öcalans unabdingbar. Bahçeli verkündete, dass Öcalan im Falle einer Auflösung der PKK sogar mit einer Freilassung aus seiner 26-jährigen Haft rechnen könne. Mitte Oktober 2024 forderte Bahçeli die PKK in einer Fraktionssitzung erneut auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben, womit er einen weiteren Schritt zur Konkretisierung des Prozesses unternahm. In seiner Rede wandte sich Bahçeli dann direkt an Öcalan und sagte: «Der Terroristenführer, der bei seiner Ankunft in der Türkei gesagt hat: ‚Ich bin zu jedem Dienst bereit‘, soll einseitig erklären, dass der Terrorismus vorbei ist und seine Organisation aufgelöst wird.»
Der MHP-Vorsitzende fügte hinzu, Öcalan könne in der Fraktion der DEM-Partei in der Grossen Türkischen Nationalversammlung sprechen, wenn die Isolationsbedingungen aufgehoben würden und die Organisation ihre vollständige Auflösung erkläre. Öcalan könne sogar auf das «Recht auf Hoffnung», das heisst auf Amnestie hoffen.
«Alle bewaffneten Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen»
Es folgte ein innenpolitisches Tauziehen, das schliesslich in die Erklärung Öcalans vom 27. Februar mündete. Darin betonte Öcalan, dass sich die Rahmenbedingungen für die PKK seit den 1990er Jahren grundlegend geändert hätten. Heute gehe es nicht mehr um die Schaffung einer separaten politischen Vertretung der Kurden in der Türkei durch einen Staat oder eine Autonomie innerhalb eines Staates, sondern um die Schaffung einer inklusiven Repräsentationsordnung im türkischen Staat, die eine separate staatliche Ordnung für die kurdische Bevölkerung überflüssig mache. Begleitet von seinem ausdrücklichen Dank an Erdoğan und Bahçeli erklärte Öcalan die Feindschaft zum türkischen Staat für endgültig beendet:
«Ethnischer Nationalismus in seinen verschiedenen Formen – sei es durch Nationalstaaten, föderale Zusammenschlüsse, administrative Autonomie oder rein kulturelle Lösungen – kann jedoch die tief verwurzelten historischen und sozialen Realitäten dieser Region nicht angemessen berücksichtigen. Eine echte und dauerhafte Lösung liegt in der Anerkennung der Identitäten, der Gedankenfreiheit, der demokratischen Organisation und der Schaffung sozioökonomischer und politischer Strukturen innerhalb einer wirklich demokratischen Gesellschaft und eines politischen Rahmens.»
Und am Ende seiner Erklärung lässt er das PKK-Netzwerk wissen:
«In diesem Zusammenhang rufe ich zur Entwaffnung aller bewaffneten Gruppen auf und übernehme die historische Verantwortung für diesen Aufruf. Da keine zeitgenössische Bewegung oder Partei durch Zwang aufgelöst wurde, rufe ich alle Gruppen auf, ihre Kongresse freiwillig einzuberufen und entscheidende Beschlüsse zu fassen. Alle bewaffneten Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen und die PKK muss sich selbst auflösen.»
Welche Gegenleistungen der Türkei?
Damit ist die PKK de facto Geschichte. Ob sich die YPG/PYD dieser Politik anschliessen werden, ist noch nicht entschieden. Der führende PYD-Politiker Salih Muslim hat sich dafür ausgesprochen, Öcalan zu folgen, doch der Militärchef der YPG und Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mazlum Abdi, distanzierte sich: Öcalans Statement mache für die Türkei Sinn, nicht aber für Nordostsyrien. Angesichts der Zustimmung der kurdischen Parteien im Nordirak, selbst aus der PKK-Hochburg im Qandil-Bergland und des internationalen Drucks wäre es jedoch eine Überraschung, wenn sich Abdis ablehnende Haltung durchsetzen würde.
Es wird sich zeigen, welchen Preis die türkische Regierung zu zahlen bereit ist. Er dürfte nicht hoch sein. Erwartet wird ein innenpolitisches Einlenken: die Freilassung inhaftierter kurdischer Journalisten, ein Ende der türkischen Zwangsverwaltung kurdischer Städte, eine Verfassungsänderung, die es ermöglicht, das Kurdische als Teil der türkischen Nationalidentität anzuerkennen und der kurdischen Sprache einen festen Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen.Doch selbst mit diesen eher bescheidenen Forderungen tut sich die türkische Politik noch schwer. Im türkischen Fernsehen wurde vorsichtshalber die Verlesung der kurdischen Version der Erklärung Öcalans herausgeschnitten.
Viele offene Fragen
Die neue türkisch-syrische Allianz könnte sogar zum Taktgeber werden. Denn wie Erdoğan von dem Regime in Damaskus eine inklusive politische Ordnung erwartet, durch die die «Kurdenfrage» in Syrien im Rahmen einer zentralstaatlichen Verfassung gelöst werden soll, könnte eine analoge, eigentlich undenkbare Aufweichung des starren Etatismus in der Türkei denkbar werden. Erdoğan könnte sich dann als Garant einer demokratischen Ordnung, für die er nun sogar in Europa eintreten will, feiern lassen.
Manche munkeln sogar, dass Erdoğan angesichts der Allianz der israelischen Regierung mit der Trump-Administration die europäische Karte spielen wird, um so dem türkisch-israelischen Gegensatz eine neue Kontur zu verleihen. Bei der Abstimmung der ukrainischen Entschliessungsantrags zur Verurteilung der russischen Aggression in der UN-Vollversammlung am 24. Februar hat die Türkei zusammen mit den Europäern zugestimmt, während Israel mit den USA und Russland dagegen stimmten.
Was die Erklärung für die kurdische Politik bedeutet, ist vollkommen offen. Die Auflösung der PKK bedeutete auch das Ende eines politischen nationalistischen Messianismus, der eng mit der Person Öcalan verbunden ist. Sollte Öcalan irgendwann die Freiheit erblicken, dürfte sich die kurdische Frage weitgehend neu stellen. Zu erwarten ist, dass sich in der kurdischen Politik, besonders in der kurdischen Diaspora, eine diffuse Ablehnungsfront bilden wird, die den sich abzeichnenden Lösungsprozesse unterlaufen könnte.