Von Andy Aguirre Eglin
Es hat sich am Drama nichts geändert. Es ist immer noch die Uhr, welche das Prestige trägt, welche die Menschheit auf den Arm nimmt und in Gehäuse und Uhrwerke scheidet. Im Schweizer Edelkurort Zermatt teilen sich die Welt von Oben und Unten gar dieselbe Hausfassade, reiht sich eine McDonalds-Bude Tür an Tür zu Luxusuhren zwischen 50'000 und 200'000 Franken. Der Markt für goldene Kleinode und tickende Zeitbomben sozialer Kluft bricht durch keine Wirtschaftskrise ein. Was auch die Zunahme von Luxusuhrengeschäften an der Zürcher Bahnhofstrasse zeigt. Der Tages-Anzeiger publizierte soeben einen Artikel über „Die Zeichen der Zeit.“ Nur der Mittelstand verdünnt und verläuft sich in triste Hochhäuser tief unten in der braunen Ebene, ins Niemandsland der Armut. Im Durchzug und Grauschleier von Autobahnen und Industriebrachen. Während man in der Höhe, den weissen Arenen, der Unschuld des Schnees mit Kanonen nachhilft. Um das Karussell des Tourismus in Gang zu halten. Doch fahren längst nicht mehr alle Ski und sind auch keine ganze Nation. Es ist zu teuer geworden, nur noch einer Elite vorbehalten.
So handelt L’enfant d’en haut (CH 2012, Regie: Ursula Meier) vom 12-jährigen Simon, der das topografische Gefälle überwindet und das soziale herausfordert. Indem er Skis und Klamotten von den Touristen klaut und verhökert, um allein mit seiner arbeitslosen Mutter zu überleben. Dabei gibt er Louise, die sich aus Not auch prostituiert, als Schwester aus. Simon organisiert sich kreativ, nutzt die Nischen, Schächte, Personaleingänge und Hintertreppen der Freizeitscheinwelt aus, geht ebenso "Geschäftsbeziehungen" mit ausländischen Hilfsköchen ein, wie er als kleiner Robin Hood an die Kinder im Tal Schneebrillen und –handschuhe zu Schleuderpreisen abgibt. Er durchschaut die käufliche Freiheit der Touristen als Attitude und nutzt sie als Rollen- und Maskenpiel, um an die Statussymbole heranzukommen. Dabei lernt der gewiefte Jung- und Kleinganove die schöne Kristin kennen, eine englische Lady mit gleichaltrigen Söhnen. Doch mit denen gibt es kaum was zu reden. Zu gross ist der Unterschied zwischen Überleben und Zerstreuung. Eine Kindheit hat nur, wer sie sich leisten kann. Doch Kristin erscheint Simon als gute Fee von einem anderen Stern seiner Sehnsucht nach einem besseren Leben. Das die Besitzer von Verbiers Luxuschalets im Schutz ihres Geldes pflegen – auch dank dem Fleiss einer Subkultur von "Chalet girls" und portugiesischer Putzkolonnen. So führt der Zufall Simon und Louise, da diese wieder mal Arbeit findet, zur Reinigung just ins Anwesen von Kristin, die Simon alias „Julian“ wiedererkennt. Nun könnte sich soziale Versöhnung anbahnen – etwa eine Hauswartung als feste Arbeit für Louise. Kristin könnte Simon auch sein Flunkern als „Julian“ angeblich begüterter Eltern nachsehen. Doch da fehlt im Badezimmer plötzlich ihre Prunk-Uhr – und findet sich in Simons Hosentasche wieder. Mutter und Sohn werden auf der Stelle entlassen. Einmal mehr trennt eine Uhr die Klassen! –
Mit ihrem alpinen Roadmovie gewann Ursula Meier im Februar in Berlin einen Silbernen Bären. Inzwischen läuft es europaweit in den Kinosälen, überrascht ein so kritischer Blick in einem Schweizer Film auf die eigenen Verhältnisse. Die Westschweizer Regisseurin studierte in Belgien. So findet sich auch die soziale Sensibilität der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne wieder („Rosetta“, 1999).
Der „Sonderfall“ Schweiz war zuvor lange auch einer des Schweizer Spielfilms – im Wohlstand fehlt es angeblich an relevanten Geschichten. Vermeintlich, denn auch da gibt es solche zur Genüge. Das beweisen unsere Dokumentarfilmer, die immer wieder auch international beachtete Preziosen schaffen. Das Wort ist nicht ohne Grund verwandt mit Präzision: Es ist der genaue und beharrliche Blick auf die Wirklichkeit, der die Stoffe findet. So bewährten sich in Locarno auch 2012 wieder die CH-Dokumentaristen:
Alice Schmid schaute ein ganzes Jahr lang auf Die Kinder vom Napf (CH 2011), deren Alltag im zerklüfteten Luzerner Wilden Westen, wo man auch Gold schürft.
Sie kondensierte aus 400 Stunden Drehmaterial 90 Minuten, worin Thomas (11) sagt: „Mein Hobby ist das Mausen. Letztes Jahr schaffte ich 120. Ich fange Mäuse, weil sie die Wurzeln der jungen Apfelbäume auffressen. Papi gibt mir 50 Rappen für jede Maus. Heute gibt’s Mausefallen, die senden Dir ein SMS, wenn eine in die Falle geht.“ – Nina (11) wohnt mit ihrem Bruder Lukas (9) unter der ‚Breitäbnet’.
Flurnamen zieren den Arsch der Welt. Jeden Morgen führt ihr Schulweg mit der Luftseilbahn über die 200 Meter tiefe Goldbachschlucht: „Einmal haben wir meinen Bruder vergessen. Weil wir immer singen im Bähnchen. Wir waren schon in der Lunft.
Da sahen wir ihn anrennen und winken. Grossvater stoppte, wir kehrten um.“In einem solchen Kleinkosmos, in ähnlicher Landschaft, wo das Leben und die Versorgung der Leute an einem Drahtseil hängen, verortete auch Fredi Murer, einer der wenigen Filmpoeten dieses Landes, einst seinen Klassiker „Höhenfeuer“(CH 1985). – Und der Topos des (langen) Schulwegs inspirierte Abbas Kiarostami zu „Wo ist das Haus meines Freundes?" (Iran 1988).
Woran liegt es also, dass die Schweizer Dokumentarfilmer ihr Garn nicht weiterspinnen? Sie sind doch schon da, bei den Geschichten! Warum springen nicht mehr Funken ihrer verdienten Recherchen über zum dramatischen oder gar komödiantischen Fach? Humor ist auch so eine Fallgrube! Welche Scheu hindert an der Umsetzung in die Fiktion? Warum klafft zwischen den Genres eine solche Lücke der Angst? – Was vernebelt einerseits den Spielfilmautoren den Blick auf existenzielle Inhalte, macht sie narzisstisch und lebensfern, während andererseits Experten der Wirklichkeit, die KollegInnen von der Dokumentarabteilung nicht die notwendige Distanz zu den Fakten, an innerer Freiheit gewinnen, um substanzielle Stoffe in einem Spielfilm poetisch zu verdichten?
More Than Honey (CH 2012) von Markus Imhoof, uraufgeführt auf der Piazza Grande zum Ausklang des diesjährigen Festivals hat als Dokumentarfilm sogar das Zeug zum Weltbestseller bei Festivals, Sendeanstalten und Bibliotheken. Wie schon „Microcosmos – Le peuple de l’herbe“ (France 1996) der Biologen Claude Nuridsany und Marie Pérennou.
Damals wurde die kleine Kreatur der Natur zum ersten Mal zum Hauptdarsteller. Nun fliegen dank Imhoof auch noch die Bienen in fantastischer Grossaufnahme bei Bakersfield in Kalifornien durch eine unendliche Monokultur duftender Mandelbäume, um 90 % der Welternte zu bestäuben. Bienenfleiss wird längst industriell genutzt. So schmunzelt John Miller, US-Gross- und Wanderimker, zum Summen seiner 15’000 Bienenvölker: „Das ist der Klang des Geldes.“ – Dafür lässt er Bienen wie Wanderarbeiter auf Trucks Tausende von Meilen von einer Plantage zur nächsten quer durch die USA karren. Solche Ausbeutung bekommt dem Stock Market, aber nicht dem Stock. Viele Bienen werden anfällig für Krankheiten, verenden an tödlichen Parasiten. Inzwischen droht die Varroamilbe auch in Europa einen erheblichen Teil der Honigproduzenten zu vernichten – im Doppelsinn, genuin und wirtschaftlich!
Der Film porträtiert auch einen kauzigen Bergimker in den Schweizer Alpen, der auf die robuste alte Landrasse seiner Bienenvölker schwört. Was sich erst wie ein rühriger Werbespot für Swissness ansieht, ähnlich der Reklame für das Rezept von Appenzeller Käse, entpuppt sich erschreckend als Beispiel für nicht nur bienenvölkischen Rassenwahn. Wobei die gegen jede fremde Königin und Drohnen verteidigten lokalen Insekten schliesslich an ihrer Inzucht eingehen!
Imhoofs Zugang zum Thema ist ein persönlicher. Was nebenbei wohl auch der Schlüssel ist zu jedem guten Film. Seine Grossvater war schon Imker und seine Töchter sind es noch im fernen Australien, wo auch der Schwiegersohn nach genetisch überlebensfähigeren Bienen forscht. Deren Gefährdung ist akut: „If the bee disappears from the surface of the Earth, man would have no more than four years left to live“, rechnete schon Albert Einstein die Grünfläche der Erde hoch auf unsere Ernährung. – Imhoof: „Die Bienen sterben nicht einfach an Pestiziden, Antibiotika, Milben, Stress oder Inzucht: Es ist die Summe von allem. Sie sterben am Erfolg der Zivilisation!“ – So summt in China durch weite Landstriche wegen der extensiven Chemiekeule keine Biene mehr, müssen Menschen als Bestäuber her, um Blüte um Blüte zu betupfen. Die Massenproduktion endet wieder da, wo sie begann – in vorindustrieller mühseliger Handarbeit. – Markus Imhoof gelingt nichts weniger als am erlahmenden Bienenfleiss und verstummendem Summen veranschaulichte Zivilisationskritik, er zeigt mit wenig Worten, aber haftenden Bildern den Menschen als Ursache. Dafür drehte er mit einer engagierten Crew 5 Jahre auf 4 Kontinenten.
Noch kann man die natürlichen Bestäuber im Kino bestaunen: „More Than Money“ folgt den Bienen mittels Minihelikopter zum Paarungsflug, beobachtet dank Endoskop-Objektiven ihr sonst verborgenes Innenleben, ihre tänzelnde Verständigung als Schwarmintelligenz im sozialen Superorganismus, der zunehmend bedroht ist. Hoffnung kommt ausgerechnet von den bekämpften Killerbienen, einer wilden Mischung aus Afrika und Europa über den Umweg brasilianischer Labore. Diese verfügen über eine viel höhere Resistenz, aber schwärmen, wohin sie wollen. Eine philosophische Parabel zur Wachstumsgrenze des Kapitalismus an der Natur, am Leben – auch menschlicher Freiheit?
Endstation Narzissmus
Steiner ist so einer: „A wunderboy of the Swiss Cinema“ – meinte Olivier Père, der künstlerische Direktor des Filmfestivals von Locarno, wohl auch etwas ironisch, als der helvetische Regiestar der letzten Jahre mit seinem Hofstaat auf die Piazza ins Rampenlicht trat, um vor der Premiere von **Das Missen Massaker (CH 2012) Huldigung entgegenzunehmen. Mit „Nacht der Gaukler“ (CH 1996) machte er erstmals als Talent zumindest in formaler Hinsicht von sich reden. Man konnte in den Schwarz-Weiss-Thriller noch manches hineininterpretieren: etwa den Bezug zu Orson Welles’ Verfilmung des Kafka-Romans „Der Prozess“ (USA 1962) und andere Anleihen mehr. Man konnte sich ergötzen am Schnitt und noch hoffen – auf Inhalte, die sich mit der Reife der Jahre vielleicht ergeben. Denn das Handwerkszeug hat Michael Steiner zweifellos. Ob das schon genügt zum Filmautor?
So brachte er uns in „Grounding“ (CH 2006) die harte Landung der Swissair und ebenso unserer nationalen Identität aus blauem Himmel mit rotweissen Kreuzen zu Gemüt. Aber so richtig gingen auch Literaturverfilmungen weder „Mein Name ist Eugen“ (CH 2005) noch sein Skandalon bei der Produktion zu „Sennentuntschi“ (CH 2010), unter die Haut. Dafür war der Blick auf die Verhältnisse zu skizzenhaft und summarisch. Verdichtung hat mit Genauigkeit zu tun, zeigt im Kleinen das Grosse, im Nahen das Ferne und fern das Vertraute, nicht umgekehrt. Wahre Filmautoren haschen nicht nach Effekt, vermitteln Magie auch in stillen Bildern. Umso kritischer ist Steiners Missen-Kissen-Film auf RTL-Niveau zu hinterfragen:
Vielleicht ist Steiners Aufstieg aber auch ein massenkulturelles Phänomen, surft da ein Schlaumeier in der Eventkultur auf einer infantilen "Popcorn-Welle."
Für wie dumm hält so ein Aufguss an filmischen Zitaten das Publikum? Und noch erstaunlicher: Wie viel öffentliche und private Förderung ermöglichten so ein plumpes Elaborat! Befinden sich die Kommissionen, welche Geld vergeben, in solcher Verzweiflung? Fehlt’s im Deutschschweizer Film so sehr an Autoren, die was zu erzählen haben? Wissen die Kulturpfleger nicht, wohin mit den Mitteln? Nachdem man jahrelang für mehr kämpfte und immer noch kämpft! – Auch das Kalkül der Erhaltung von Arbeitsplätzen der Condor Films als Produktionsfirma stellt dem gleichzeitig für sein Lebenswerk geehrten Produzenten Martin Fueter alles andere als ein achtbares Zeugnis aus. Steiners billiger Reisser "massakriert" nicht nur schöne Missen, sondern auch nachhaltig den Ruf der Filmförderung!
Alt und Jung
Künstlerisch und menschlich erholen konnte man sich dieses Jahr in Locarno etwa am leiseren Film Starlet (USA 2012, Regie: Sean Baker), der ebenso von Missen handelt – allerdings der Pornobranche.
Das San Fernando Valley, auch „Silicone Valley“, „Porn Valley“ oder „San Pornando Valley“ genannt, zieht seit den 70-er Jahren aus allen Ecken der USA Provinzschönheiten in die Illusionsfabriken der Lust. Durch diese Vororte von L.A. ziehen sich endlos Strassenzüge, einer wie der andere. Anonym sind auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Hype-Kultur von Kokain-Nasen, die jede Woche aus dem Nice-Body-Reservoir von 1500 DarstellerInnen in 200 Studios 200 Schmuddelfilme dreht. Insgesamt erwirtschaften rund 6000 Mitarbeiter mit 90 % Anteil an der US-Adult Film Industry einen jährlichen Umsatz von über 2 Mrd. US-Dollar, was der Traumfabrik des bekleideten Films im nahen Hollywood (2010: 2,8 Mrd. Euro) bald den Rang abläuft. In diesem Umfeld schlägt sich Jane (Dree Hemingway) mit ihrem Chihuahua-Hündchen „Starlet“ durchs Leben. Bonanza scheint es nicht. Sie kauft sich Möbel vom Trödel und findet in einer Thermoskanne eine hübsche Summe alter Dollars. Zunächst will sie den Fund der alten Frau erstatten, die ihr den Trödel verkaufte. Aber das klappt nicht, also sucht sie ihr sonstwie Gutes zu tun. Auch das ist kein einfaches Unterfangen. So nähern sich Ernest Hemingways Grossenkelin alias Jane und die 85-jährige Besedka Johnson als bärbeissige Sadie über Hürden und Umwege an. Ihre Freundschaft unter Einsamen über die Kluft von 65 Jahren steht auf dem Prüfstand, als die Wohnungskumpelin Melissa, wie Jane auf dem Porno-Set tätig, aus Eifersucht petzt. Sadie ist schon dabei, ihre geplante Reise nach Paris, bisher nur ein Kinotraum aus „Früstück bei Tiffanys“ mit Audrey Hepburn an ihrer Küchenwand platzen zu lassen. Doch legt sie das Kleid wieder in den Koffer zurück. „Starlet“ ist ein wunderbar feinfühliger Film des American Indipendent Cinema über echte Gefühle im Mekka des Unechten, wo Menschen nur noch eine bumsende Ware sind mit einem Lächeln wie Plastik.
„Das geht absolut nicht, das stellt Menschen bloss!“ entrüstet sich ein Veteran von Auftragsfilmen an der Uferpromenade in Ascona. Doch das kümmert die Wellen nicht. Denn Alzheimer ist seit Jahren in den Medien präsent. Es gibt Bücher von Betroffenen als letzte Begleiter. Und doch entzieht sich Aussenstehenden diese zunehmende Realität, je mehr darüber die Schlagzeilen hämmern. Vergiss mein nicht (D 2010, Regie: David Sieveking) schliesst nun diese Lücke als während 3 Jahren gefilmte Nahaufnahme eines solchen Verlustprozesses. Ein ebenso behutsamer wie schonungsloser Dokumentarfilm des Sohnes im Dialog mit seiner Mutter: „Du bist doch hier zu Hause.“ – „Hier? Keine Ahnung. Hier war ich noch nie.“ – Das ist nur eine der bestürzenden Szenen im Elternhaus von David Sieveking. Auch Malte, seinen Vater, erkennt Gretel irgendwann nicht mehr, was die Augen des eremitierten Mathematikers wässert. So stellt sich tatsächlich die Frage nach dem Schutz ihrer aller Intimität. Aber sind nicht die Beteiligten am ehesten befugt, über die Verknüpfung von Sterben als Teil des Lebens mit dem Film – als Medium zur Öffentlichkeit – selber zu entscheiden! So schaffen Mikrofon und Kamera einen Weg aus der Ohnmacht vor Gretels zunehmender Demenz zum Manifest der Liebe gegen grausame Vergänglichkeit. So sichert die Familie ihre Erfahrung vor dem Vergessen. Doch warum soll man sich einen Film über ein so schweres Thema antun? – Sieveking: „Weil es auch Spass macht, sich damit zu beschäftigen. Alzheimer hat viel komisches Potenzial und lehrt einen so manches über das Leben. Es ist eine philosophische Krankheit. Weil sie zeigt, wie es ist, wenn man sein Gedächtnis verliert.“ – Also arbeitet der Sohn mit Gretel und Malte auch die Geschichte seiner Eltern auf, deren Irrungen und Wirrungen der 68er-Generation mit einem 7-jährigen Aufenthalt in Zürich als Fichierte des Schweizer Staatsschutzes. Als das Thema ihrer "Offenen Ehe" zur Sprache kommt, die ständigen Eskapaden des Vaters auf Kosten seiner Frau, erwacht Gretel plötzlich aus dem Dämmerlicht, als wären das menschlich Tiefste, die Liebe und ihre Narben von solcher Zerstörung bis zum Tod nicht betroffen. "Vergiss mein nicht" erhielt den Preis als bester Film der Semaine de la Critique.
Was bleibt
Was bleibt weiter haften von der 65. Ausgabe des Filmfestivals in Locarno? – Lyrische Stimmungen in Not in Tel Aviv (Israel 2012, Regie: Nony Geffen). Die Nouvelle Vague scheint im Pulverfass des Nahen Ostens wieder zu auferstehen. Wo soviel sinnliche Leichtigkeit möglich ist, filmästhetischer Charme und Chuzpe aufkommt, ist das "Unheilige Land" noch nicht ganz an den Bruderkrieg verloren.
Boa Sorte, Meu Amor (Brasil 2012, Regie: Daniel Aragão) nimmt, wie "Central do Brasil" (Central Station, 1999) dem italienischen Neorealismus verbunden, das Cinema Novo des Glauber Rocha wieder auf – als ungeschminkter Blick auf die Zerrissenheit in der inzwischen sechstgrössten Wirtschaftmacht der Welt: zwischen Metropole und Hinterland, Tradition und Moderne. Letztere setzt denn auch starke Zeichen mit einer durchgehend fesselnden Bildsprache und Tonspur.
Lore (Australien 2012, Regie: Cate Shortland) zeigte erstmals in Cinerama auf der Piazza die Flucht von Deutschen bei Kriegsende durch den braunen Morast innen und aussen. Eine drastische Veranschaulichung, dass Tod und Gewalt im Kino niemals Selbstzweck, aber ebenso auch nicht zu verdrängen sind – gerade aus Achtung vor dem Leben. Wenn sich daraus ein gewaltkritisches Bewusstsein entwickelt. So geschieht es mit der 15-jährigen Lore, deren verblendetes Bild des Nationalsozialismus und ihres „Führers“ an Widersprüchen und dem Unrecht Risse zeigt und am Ende zerspringt wie der verlogene Kitsch von Bambi-Figuren.
Wirtschaftskrise – was ist das?
Das war’s dann, oder doch nicht? – Gab’s nicht noch eine Abwesende? Ein Gast, den Olivier Père und Marco Solari entweder vergassen (es gibt dafür schon eine Schere im Kopf) oder tunlichst vermieden: der die Kulinarik der Empfänge am schönen Lago hätte stören, zahlkräftige Sponsoren hätte vergraulen können? – Also kam sie auch nicht, hielt sich ans Verbot: die Krise. Die bekanntlich auch eine der Banken ist. Sie versteckte sich dieses Jahr so unauffällig im Programm, als gäbe es sie nicht. Als gäbe es keine Angst am und um den Arbeitsplatz – trotz der höchsten Rate von (Jugend-) Arbeitslosigkeit seit Bestehen Europas. Bis auf Compliance (USA, 2012, Regie: Craig Zobel) im Internationalen Wettbewerb und „The Mass of Men (GB 2012, Regie: Gabriel Gauchet) in der Sektion Pardi di domani war die Arbeitswelt im filmischen Potpourri des Zeitgeists kaum ein Thema. Dafür sehr viel spektakuläre Gewalt. Gibt es einen Zusammenhang? Gibt die Zeit ihren Geist auf?
So kann man auch den Entscheid der Jury des Hauptwettbewerbs zur Vergabe des Goldenen Leoparden durchaus verstehen: als Ausdruck von Ratlosigkeit. Sie flüchtete vor dem realen Gespenst der Krise in ein altbackenes Kammerspiel, zu einem geschwätzigen Bücherwurm in eine Pariser Wohnung, ohne Kontakt zur Aussenwelt. Stattdessen sucht der pensionierte Lehrer Michel (der Regisseur) in La fille de nulle part (F 2012, Regie: Jean-Claude Brisseau) mithilfe einer jungen Frau, die als schönes Geschöpf des Zufalls sein papierenes Leben erhellt, nach Hausgespenstern, dabei bringen sie Tische zum Schweben und schwafeln von Reinkarnation. So läppischer Eskapismus in die Welt der Wunder, gehäuft, wenn die Tatsachen der Welt schwierig werden, kann daher nicht verwundern.
Dafür heisst es nun, von den wunderbaren Bilderfluten Abschied nehmen, von dem Sog, der einen über 10 Tage und Nächte trug. Von dem Fieber, das einen gesunder und runder machte, fast so weit wie der blaue Planet. Auch im Film zu reisen bildet. Man wird vorübergehend ein anderer als zuvor. Die Sinne öffnen sich, der sonst verhetzte Blick ruht, Gehör und Nase verweilen. So schafft die menschliche Kunst als künstliche Verdichtung gerade ihre Annäherung an das Natürliche – wie schon Leonardo da Vinci (1452-1519) versuchte, bewegtes Wasser zu zeichnen.
L’altra Sala heisst ganz sachlich einer der Kinosäle des Festivals von Locarno. Nennen wir das Geheimnis der Kunst L’altro Spazio: Gemeint ist der Raum und die Zeit, die Kunstwerke des Films – alle Künste – im besten Fall vermitteln: Wir betreten einen anderen Raum, eine andere Zeit jenseits unserer üblichen Grenzen, um die wir erst wissen, wenn wir sie überschreiten. Womit auch Peter Mettlers The End of Time (CH 2012) noch seine Erwähnung verdient: eine im Lärm der Profilierungen unterschätzte meditative Expedition zu archaischen Landschaften der Erde, so auch zum Riesenteleskop La Silla in der Chilenischen Atacamawüste.
Wir schauen durch das einsame Superauge in den unendlichen Kosmos – an die Grenzen und in die Tiefe unserer Wahrnehmung, zu dem also, was wir im kurzen Dasein letztlich für „wahr“ nehmen. Den Weizen oder die Spreu. Nun ist’s aber genug: Der Palazzo FEVI gehört wieder dem Mehrzweck.