Natürlich sind die im Stil einer globalen Verlagsoperation lancierten Obama-Memoiren in vielen Ländern sofort an die Spitze der Bestsellerlisten geklettert. Präsidenten-Erinnerungen sind in Amerika zu einer weitgehend etablierten Tradition – und einem lukrativen Geschäft – geworden. Von zwei besonders prominenten US-Präsidenten im vergangenen Jahrhundert fehlen sie allerdings: Franklin D. Roosevelt starb im Amt und John F. Kennedy wurde ermordet.
Anders als das Trump-Gezeter
Zwei Erwartungen sind es wohl in erster Linie, die der Leser mit den Obama-Memoiren verbindet. Zum einen das Bedürfnis, nach den Jahren des nervenaufreibenden, vulgären Trump-Geschreis endlich wieder einmal eine glaubwürdige Stimme aus der obersten Führungsebene der amerikanischen Weltmacht zu vernehmen. Man hofft auf einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der amerikanischen Gegenwart, der sich nicht auf twitterndes Eigenlob und billige Oberflächlichkeiten beschränkt. Zum andern erwartet man von Obama ein auch stilistisch prägnant und elegant formuliertes Leseerlebnis. Denn dass dieser Politiker fesselnd und differenziert erzählen kann, das weiss man seit seinem in sehr jungen Jahren geschriebenen Buch «Dreams from My Father» (deutsch: «Ein amerikanischer Traum»), das schon damals zum Bestseller wurde.
Beide Erwartungen erfüllen Obamas präsidiale Erinnerungen in hohem Masse. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass im zweiten Teil dieses 700-seitigen Bandes (in der deutschen Ausgabe sind es um die 1000 Seiten) über den Aufstieg zum Präsidentschaftskandidaten und die drei ersten Jahre im Weissen Haus zumindest dieser Leser etliche Seiten übersprungen hat. Einige Schilderungen über bestimmte Episoden des Regierungsgeschäfts erschienen ihm allzu detailliert.
Amerikas Widersprüche
Schon im Vorwort skizziert Obama in souveränen Strichen einige grundsätzliche und schmerzliche Widersprüche im amerikanischen Selbstverständnis. Er argumentiert, dass es in der Geschichte dieses Landes immer tief unterschiedliche Grundströmungen gegeben habe. Er erinnert daran, dass schon die berühmte amerikanische Unabhängigkeitserklärung von diesen Gegensätzen geprägt ist. Die Präambel dieses Dokuments proklamiert einerseits die «selbstverständliche Wahrheit, dass alle Menschen gleich erschaffen sind», während gleichzeitig die Realität der Sklavenhaltung legal anerkannt war und selbst von den Gründervätern praktiziert wurde.
Er gestehe, schreibt Obama im Vorwort, dass er sich beim Schreiben dieses Buches mitunter gefragt habe, ob er mit solchen fundamentalen Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu vorsichtig umgegangen sei. Oder, spinnt er den Gedanken weiter, ob gerade eine gewisse Zurückhaltung die Chance erhöht habe, Amerika «in der Richtung voranzubringen, die man dem Land versprochen hat». Solche ebenso subtilen wie nachdenklichen Sätze wird man in Trumps Memoiren, wenn diese je geschrieben werden, mit Sicherheit nie lesen.
«Allein das sollte es wert sein»
Ausführlicher setzt sich Obama mit den Motiven auseinander, die ihn dazu bewogen hatten, sich vier Jahre nach seiner Wahl zum Senator von Illinois als Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu bewerben. Es war schwierig, seine Frau Michelle von diesem Schritt zu überzeugen. Es sei keineswegs sicher, dass er dieses Rennen gewinnen werde, erklärte ihr der Ehemann. Aber etwas wisse er bestimmt. Wenn der Tag kommen sollte, an dem er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt werde, «wird die Welt anders auf Amerika blicken. Ich weiss, dass dann Kinder überall in diesem Land – schwarze Kinder, hispanische Kinder, Kinder die nicht zu den Etablierten gehören – sich selber auch anders sehen werden, ihre Horizonte werden weiter, ihre Möglichkeiten grösser werden. Allein das sollte es wert sein.»
Im Präsidentschaftswahlkampf 2008 war der republikanische Senator John McCain Obamas Kontrahent. Vor dem Hintergrund der in jenem Jahr ausgebrochenen schweren Finanzkrise und der Ernüchterung über den von Bush junior mit falschen Behauptungen vom Zaun gebrochenen Irak-Krieg hatte der ältere republikanische Herausforderer gegen den jugendlich-charismatischen schwarzen Präsidentschaftskandidaten mit seinem schwungvollen Slogan «Yes we can!» von Anfang an nur geringe Chancen.
Obama erinnert in seinen Memoiren aber ausdrücklich daran, wie fair und entschieden McCain ihn gegen rassistische Zwischenrufer aus den eigenen Parteireihen verteidigt hatte. Solche vornehmen Töne scheinen nach den kruden Beleidigungen, die Donald Trump jeweils gegen seine Gegner oder Kritiker (zu denen auch McCain gehörte) auszuteilen pflegt, einer schon länger versunkenen Epoche zu entstammen. Obama wiederum zögert nicht, einigen früheren Grössen aus dem republikanischen Lager wie Präsident Bush senior, Colin Powell oder dem ehemaligen Sicherheitsberater Brent Scowcroft seinen Respekt für ihre aussenpolitischen Leistungen zu bezeugen. Das Gleiche gilt für Robert Gates, den Obama von seinem Vorgänger George W. Bush als Verteidigungsminister übernommen hatte.
Mit Putin stimmt die Chemie nicht
Hohes Lob wird auch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zuteil. Obama charakterisiert sie in einem kurzen, einprägsamen Portrait als eine überaus reflektierte, gradlinige Persönlichkeit mit hohen analytischen Qualitäten, die emotionalen Ausbrüchen und übertriebener Rhetorik überaus skeptisch gegenüberstehe. Der französische Präsident Sarkozy, mit dem Obama in seiner ersten Amtszeit zu tun hatte, kommt im Vergleich deutlich weniger gut weg. Er sei zwar weniger zuverlässig und konstant in der Zusammenarbeit, dafür aber von explosiver Energie.
Im Verhältnis zum Kremlchef Putin stimmte die Chemie zwischen den beiden höchst ungleichen Persönlichkeiten von Anfang an nicht. Putin empfing Obama zum ersten Mal in seiner Residenz ausserhalb von Moskau in seiner Funktion als russischer Ministerpräsident. Aus verfassungsrechtlichen Gründen hatte er die Präsidentschaft nominell für vier Jahre an seinen Mitarbeiter Medwedew übergeben. Putin hielt dem Besucher einen längeren Vortrag, in dem er aufzählte, wo die USA sich gegenüber Russland arrogant und undankbar verhalten habe. Dass die meisten osteuropäischen Länder dem Zerfall des Sowjetimperiums und nach 45 Jahren unter Moskauer Oberherrschaft Jahren aus nahliegendem Eigeninteresse die Mitgliedschaft in der Nato und in der EU anstrebten, hat Putin zumindest öffentlich nie anerkannt, sondern stets als russlandfeindliche Einkreisungsstrategie kritisiert.
Dennoch kann man sich fragen, ob Obama, der in anderen Zusammenhängen in seinen Erinnerungen ein bemerkenswertes psychologisches Einfühlvermögen an den Tag legt, sich gegenüber dem schnell gekränkten Kremlchef nicht um etwas mehr persönliches Entgegenkommen hätte bemühen können. Dass Putin sich dann als Gegenleistung weniger aggressiv etwa gegenüber dem früheren Untertanenland Ukraine verhalten hätte, bleibt freilich eine dünne Spekulation.
Bidens Schwächen und Stärken
Auch den 19 Jahre älteren Joe Biden, den er zu seinem Ticketpartner für die Vizepräsidentschaft wählte und der nun mit 78 Jahren die Nachfolge Trumps antritt, widmet Obama eine kurze Charakter-Skizze. Er schildert ihn als sehr warmherzige Persönlichkeit, der sich spontan für andere Menschen interessiere. Er erwähnt aber auch Bidens oft überbordende Neigung zu allem und jedem Thema einen längeren Redefluss vom Stapel zu lassen. Dieser «Mangel an einem Filter» habe ihn ab und zu in Schwierigkeiten gebracht. Doch das seien triviale Schwächen im Vergleich zu Bidens Stärken, beteuert Obama. Zu diesen rechnet er dessen menschliche Qualitäten, die innere Kraft, mit der Biden seine familiären Tragödien durchgestanden habe und seine Erfahrung in aussenpolitischen Fragen.
Detailliert schildert Obama den intensiven Kampf um sein innenpolitisch wohl gewichtigstes Projekt, den Zugang für alle US-Bürger zu einer bezahlbaren Krankenversicherung, das inzwischen allgemein unter der Bezeichnung Obamacare bekannt ist. Nach zähen, heftigen Auseinandersetzungen und dank zahlreichen Kompromissen gelang es schliesslich, dieses fundamentale Anliegen durch den Kongress zu bringen.
Das Ringen um Obamacare
Das war nur möglich, weil die Demokraten in den ersten beiden Jahren von Obamas Präsidentschaft eine Mehrheit hatten. Die Republikaner hatten, ebenso wie später unter Präsident Trump, mit aller Kraft versucht, Obamacare zu torpedieren. Warum diese Partei das Projekt einer für alle Bürger bezahlbaren Krankenversicherung, vor dessen Einführung 43 Millionen Amerikaner über keine derartige Versicherung verfügten (heute sind es immer noch über 20 Millionen), so hartnäckig bekämpft, ohne selbst eine glaubwürdige Alternative zu entwickeln, ist schwer erklärbar – zumindest aus der Sicht eines modernen Sozialstaates, der bestrebt ist, auch den ärmeren Gesellschaftsschichten ein gewisses Mass an Sicherheit zu bieten.
Obama verhehlt in seinen Erinnerungen nicht, dass die Zwischenwahlen von 2010, im zweiten Jahr seiner Amtszeit, für ihn und seine Partei eine herbe Enttäuschung war. Die Demokraten verloren 60 Sitze im Repräsentantenhaus, nur Franklin Roosevelt hatte in seiner langen Amtszeit in den 1930er Jahren einmal mehr Sitze verloren. Immerhin konnten die Demokraten ihre Mehrheit in der grossen Kongresskammer behaupten, sie büssten aber die Majorität im Senat ein. Das Regieren wurde für Obama nun schwieriger, denn die Republikaner konnten mit ihrer Mehrheitskontrolle in dieser Kammer nun eine noch konsequentere Obstruktionspolitik gegen das Weisse Haus betreiben als zuvor. Obama gelang es trotzdem, 2012 relativ mühelos die Präsidentschaft für eine zweite Amtszeit zu gewinnen und seinen republikanischen Herausforderer Mitt Romney (der sich inzwischen auch mit Trump überworfen hat) auf Distanz zu halten. Über dieses letztere Kapitel und seine zweite Präsidentschaft wird Obama im geplanten zweiten Band seiner Erinnerungen berichten.
In besserer Form als acht Jahre zuvor
Eine kurze und bündige Gesamtbilanz aus seiner Sicht über die acht Jahre seiner Präsidentschaft zieht Obama schon im Vorwort des vorliegenden Bandes. Die Stimmung im Flugzeug, das ihn unmittelbar nach der Vereidigung seines Nachfolgers Trump in den Erholungsurlaub nach Hawai brachte, sei «bittersüss» gewesen, schreibt er. Schliesslich sei jemand zu seinem Nachfolger gewählt worden, «der zu allem, wofür wir standen, einen diametral entgegengesetzten Standpunkt vertrat». Aber gleichzeitig habe er auch die innere Befriedigung verspürt, schreibt Obama weiter, dass das Land nach den acht Jahren seiner Präsidentschaft «jetzt in besserer Form» war als zum Zeitpunkt seiner Regierungsübernahme.
Natürlich werden das die Obama-Hasser und ultrakonservativen Ideologen (beide Kategorien verfügen in Amerika über eine nicht geringe Anhängerschaft) vehement bestreiten. Aber die Fakten sind, sofern man sie ernst nimmt, eindeutig: Am Ende der Präsidentschaft von Bush junior wurde Amerika von der schwersten Finanzkrise der Nachkriegsgeschichte durchgeschüttelt. Die Arbeitslosigkeit tendierte gegen 10 Prozent, am Ende von Obamas Amtszeit war die Zahl der Arbeitslosen auf unter 5 Prozent halbiert. Und um Amerikas Prestige und Goodwill war es unter dem ersten schwarzen Präsidenten weitherum in der Welt zweifellos besser bestellt als unter seinem Vorgänger, der sein Land mit gezinkten Argumenten in einen sinnlos teuren und politisch kontraproduktiven Krieg im Irak hineingeritten hatte.
«A Promised Land» (Ein verheissenes Land), der Titel von Obamas Memoiren lässt vielschichtige Bezüge anklingen. Ich lese ihn so: Das versprochene Land spielt auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung an, in der verkündet wird, «dass alle Menschen als gleich erschaffen sind» – vielleicht nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch bezüglich gleicher Chancen. Dass dieses idealistische Versprechen in Wirklichkeit bisher bei weitem nicht umfassend eingelöst wurde, ist unbestritten. Aber als erster schwarzer Präsident hat Barack Obama das «versprochene Land» oder den «amerikanischen Traum» der Wirklichkeit immerhin ein wenig näher gebracht.
Barack Obama: A Promised Land. Random House, 2020, 751 S.
Deutsche Ausgabe: Ein versprochenes Land, 1024 S.