Der Bericht der Uno-Fachleute über den Giftgas-Angriff ist Syrien ist ziemlich wertlos. Obwohl es sich um ein zweifellos sehr korrektes, hochwissenschaftliches und auch mit grosser Selbstlosigkeit und Anstrengung durch die Fachleute produziertes Papier handelt, bringt der Bericht nicht jene "volle Aufklärung" über das Kriegsverbrechen, die notwendig wäre, um praktische Folgen aus ihm zu ziehen.
Dies ist nicht der Fehler der Fachleute. Der Fehler liegt in den Einschränkungen des Mandates, das diesen Fachleuten erteilt wurde. Es lautete, wie von Anfang an bekannt war, festzustellen, ob ein Gasangriff stattgefunden habe. Jedoch nicht zu ermitteln, wer der Schuldige ist. Die Einschränkung des Mandates war natürlich mit Vorbedacht vorgenommen worden. Russland war nur bereit, einem solchen eng umschriebenen Mandat zuzustimmen, nicht etwa einem, das auch die Schuldfrage klären soll.
Ein Kriegsverbrechen ohne Schuldige?
Folge dieser Mandatseinschränkung ist nun, dass der Bericht der Fachleute weiter diskutiert werden kann und weiterhin in Frage gestellt wird. Dass am 21. August in der Ghouta von Damaskus ein Gasangriff grossen Ausmasses stattgefunden hatte, stand von vorneherein fest. Niemand stellte es in Abrede, weder die Russen, noch die Amerikaner, noch die syrische Asad-Regierung, noch die syrischen Rebellen. Die vergifteten Toten waren da, um den Sachverhalt unwiderlegbar zu beweisen. Schon vor den Nachforschungen der Gasfachleute drehte sich die Diskussion darum, wer der Schuldige sei. Und in dieser Frage gab es Gegensätze, die heute fortbestehen.
Das Asad-Regime und Moskau sagen, sie seinen "überzeugt", dass die Rebellen den Angriff durchgeführt hätten. "Eine Provokation" erklärte Lawrow in Moskau gegenüber Fabius. "Wir haben den Russen neue materielle Beweise vorgelegt," dass es die Aufständischen waren, erklärte Damaskus. Welcher Art diese "Beweise" sind, gaben weder Moskau noch Damaskus bekannt. Doch Moskau versprach, es werde diese "Beweise" der Uno vorlegen.
Indizien der Schuld
Die Gasfachleute haben ihrerseits einiges getan, um die Frage zu klären, woher die Gasangriffe kamen. Sie haben - basierend auf den Raketeneinschüssen die Trajektoren-Linien - berechnet oder abgeschätzt, welche die beiden Arten von gashaltigen Raketen zurücklegten, die verwendet worden waren und die einwandfrei als Träger von Giftgas identifiziert werden konnten.
Es waren zwei Art von Kurzstrecken-Raketen, solche mit 320 und solche mit 140 mm Durchmesser. Einige der wiedergefundenen Bruchstücke trugen cyrillische Aufschriften. Die Trajektoren-Linien aus zwei entfernt voneinander liegenden Orten Mouadhamiya und Ein Tarmal kreuzen sich in einer Region, in der es syrische Militärlager gibt.* Dass die entsprechenden Geschosse zum syrischen Militärmaterial gehören, ist ebenfalls bekannt. Die 320 mm Raketensysteme sind sowjetischer Herkunft, jene der 140 mm Raketen gilt als unbekannt.
Dass die Aufständischen solche Waffen besitzen, wurde bisher nicht beobachtet. Doch man muss anmerken, dass sie solche erbeutet haben könnten. Dies ist nicht unmöglich, denn sie haben in der Vergangenheit mehrmals, besonders im Norden Syriens, Waffenlager der syrischen Armee erobert und unter ihre Kontrolle gebracht.
Verärgerte Russen
Die Aussagen der Uno-Fachleute über die wahrscheinlichen Ursprünge des Angriffes gehen strikte genommen über das ihnen erteilte Mandat hinaus. Sie lassen sich allerdings auch innerhalb des beschränkten Mandatsrahmens rechtfertigen. Die Fachleute können sich auf den Standpunkt stellen, Feststellungen, woher der Angriff gekommen sei, könnten als ein Teil der ihnen aufgetragenen Aufklärungsarbeit darüber gelten, ob es einen solchen Angriff gegeben habe.
Doch den Ärger darüber, dass die Fachleute bis an die Grenzen ihres Auftrags gegangen sind, und möglicherweise auch leicht darüber hinaus, konnten die Russen nicht ganz unterdrücken. Sergei Ryabkow, der stellvertretende russische Aussenminister, schalt den Bericht der Fachleute "einseitig" und "belastet von Vorurteilen". Er erklärte, Russland sei enttäuscht, um es milde zu sagen, über "das Vorgehen des Sicherheitsrats und des Generalsekretariats der Uno, indem sie den Bericht selektiv und einseitig verfassten".
Jede Seite beharrt auf ihrer Ansicht
Das Fazit des ganzen Investigations- und Berichtverfahrens ist, dass jede Seite fortfährt, das aufrecht zu erhalten und glauben zu wollen, was sie von vorneherein annehmen wollte. Die Syrer und Russen: "die Schuld liegt bei den Rebellen"; die westlichen Staaten und Feinde des Asad-Regimes, "die Schuld liegt bei Asad".
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schuldigen Kräfte waren, die zu den Asad-Milizen oder Militärs gehören, scheint uns im Westen grösser, vielleicht sehr viel grösser zu sein als umgekehrt. Und umgekehrt sehen es die Russen und ihre Freunde, unter anderem Iran.
Die Russen wollen vor allem Asad stützen
Das Mandat, das die Forscher erhielten, war von vorneherein darauf angelegt, dass nie volle Klarheit entstehen konnte, weil ihnen verboten wurde, die einzig entscheidende Frage anzupacken und sie mit den Mitteln objektiver Nachforschung soweit wie möglich zu klären. All dies war im Übrigen von vornerhein klar, und zwar seit dem Augenblick, in dem bekannt wurde, wie das Mandat der Fachleute und Forscher formuliert worden war.
Für die Weiterentwicklung des diplomatischen Ringens um die Zukunft Syriens ist diese Sachlage nicht ermutigend. Das Verhalten der Russen zeigt, dass es ihnen weiterhin darum geht, das Asad-Regime zu schützen und zu verteidigen, ungeachtet der Tatsache, dass sie es dadurch in die Lage versetzen, einen Grossteil seiner eigenen Bevölkerung mit schweren Kriegswaffen zusammenzuschiessen und Millionen von Syriern aus ihren Wohnstätten zu vertreiben.
Priorität für die Russen hat nicht der Frieden – sondern Asad
Hoffnungen, die sich darauf gründeten, dass die Russen nach dem Gasangriff bereit sein könnten, nun der Suche nach einem Frieden in Syrien Priorität zu gewähren, nicht mehr bloss der Erhaltung des Asad-Regimes, werden nicht bestärkt.
Moskau zeigt weiterhin deutlich, dass es für seine Diplomatie darum geht, den Sturz Asads zu verhindern und Asad in Schutz zu nehmen, nicht etwa auf ein Ende des Bürgerkrieges hinzuarbeiten – Kriegsverbrechen hin oder her.
Die erhofften Gespräche der Super- und Weltmächte um die Zukunft Syriens, "Genf 2", sind in Frage gestellt, bevor sie auch nur endgültig angesagt sind. Bereits gibt es Streit. Die Genfer Gespräche zwischen den Aussenministern Kerry und Lawrow hatten zwar ein Übereinkommen gebracht, doch der Wortlaut dieses „deals“ ist bisher nicht veröffentlicht worden. Was ist zu tun, wenn Asad – nicht wie versprochen – seine chemischen Waffen nicht offenlegt und nicht vernichtet? Kommt dann im Sicherheitsrat Kapitel VII oder Kapitel VI zur Anwendung?
Kapitel VII sieht in einem solchen Fall „Massnahmen“ vor. Wobei allerdings Lawrow schon in Genf anmerkte, diese Massnahmen würden nicht "automatisch" erfolgen und sie sollten nicht kriegerischer Art sein. Kapitel VII sieht aber die Möglichkeit von kriegerischen Massnahmen als ultima ratio vor. Kapitel VI hingegen schliesst solche aus und zieht nur diplomatische Schritte in Betracht.
Moskau bleibt starr
Nun aber, nachdem die unmittelbare Drohung eines Kriegsschlages durch die USA in die Ferne gerückt ist, sagt Lawrow, von Kapitel VII sei nie die Rede gewesen und solle auch nicht die Rede sein. Doch Kerry widerspricht, Lawrow habe Kapitel VII "ausdrücklich zugestimmt". Auch dieser Widerspruch unterstreicht, dass es den Russen darum geht, Asad und sein Regime zu retten, nicht etwa darum, mit Hilfe aller Beteiligten und Interessierten einen Friedenskompromiss in Syrien zu erarbeiten und so den Bürgerkrieg zu beenden.
* Eine Karte von Human Rights Watch, die aufgrund der Angaben der Uno-Experten erstellt wurde, findet man bei BBC vom 18. September "Syria Crisis: Russia will give UN evidence, says Lavrov".