Deutschland hat Mutti und Biedermeier gewählt, der Meeresspiegel steigt schneller als erwartet, der Fussball rollt, und wie wird das Wetter morgen? Alle diese weltbewegenden Themen absorbieren unsere Aufmerksamkeit. Kein Platz für die Kenntnisnahme eines Datums, das ziemlich drastische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben könnte. Es handelt sich um den 1. Oktober. 2013. Kommenden Dienstag.
Dumm gelaufen?
Am 1. Oktober könnte es passieren, dass der US-Staat zahlungsunfähig wird. Denn bis dann müsste ein neuer Haushalt beschlossen werden, und bislang sieht es nicht danach aus, als ob der zustande käme. Eigentlich handelt es sich nur um ein politisches Fingerhakeln zwischen der Tea Party angehörenden Republikanern und dem demokratischen Präsidenten. Diese wollen seine Gesundheitsreform kippen und knüpfen ihre Zustimmung zu einem neuen Budget daran. Jener will das nicht akzeptieren und auch nicht verhandeln. Wie es sich im Wilden Westen gehört, stehen sich nun die Gegner im Showdown gegenüber. Wer sich zuerst bewegt, wer zuerst blinzelt, verliert.
Die Auswirkungen ab 1. Oktober wären aber ziemlich fatal. Der US-Zentralstaat könnte seine Angestellten nicht mehr bezahlen, Nationalparks, Museen und Zoos würden geschlossen. Na gut, das ist ja noch nicht dramatisch. Amerikas Kreditwürdigkeit würde in Frage gestellt, die Börsen würden hyperventilieren, der Dollar abgewertet, die Finanzmärkte durcheinandergeraten. Das wäre ziemlich dramatisch. Und könnte beim aktuellen Zustand des Finanzsystems locker zu einer nächsten Weltwirtschaftskrise führen.
Und der 17. Oktober
An diesem Tag werden die USA die gesetzlich festgelegte Schuldenobergrenze von 16,7 Billionen Dollar erreichen. Verweigert das Parlament eine Erhöhung, wären die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte schlicht zahlungsunfähig. Und das hätte dann wirklich gute Chancen, zu einer Kernschmelze des Weltfinanzsystems zu führen.
Würde, könnte und hätte. Natürlich müssen Beschreibungen einer möglichen Zukunft im Konjunktiv erfolgen. Denn was vor allem Finanzanalysten immer wieder aufs Neue überrascht: Die Zukunft ist unvorhersehbar. Es gibt aber Szenarien mit grösserer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit. Es ist natürlich denkbar, dass sich Republikaner und Demokraten noch rechtzeitig vor dem 1. Oktober und rechtzeitig vor dem 17. auf einen Kompromiss einigen. Vor den möglichen Folgen fortgesetzter Parteitaktik und Sturheit zurückschrecken. Das ist möglich. Aber nicht sicher.
Verblüffend
Es wäre unsinnig, wegen diesen beiden möglichen Ereignissen den sicheren Finanzuntergang zu verkünden. Es handelt sich aber immerhin um eine «clear and present danger», womit in der Sprache der Terrorbekämpfung legitimiert wird, dass eine Drohne losgeschickt und irgendwo auf der Welt ein potenzieller Terrorist plus ein paar Unschuldige ermordet werden.
Es ist aber verblüffend, dass diese beiden Daten – und vor allem das mit ihnen verknüpfte Gefahrenpotenzial – weder von den Medien noch von der Öffentlichkeit gebührend zur Kenntnis genommen werden.
Noch viel weniger von Finanzanalysten und den Börsen. Börsen sollen doch angeblich zukünftige Entwicklungen einpreisen, als zweckrationaler Marktplatz heute schon morgige Ereignisse vorwegnehmen. Aber da wird ungebrochen die Entscheidung der US-Notenbank Fed bejubelt, weiterhin im Multimilliardenpack Geld zu drucken und die Zinsen bei Null zu belassen. Mögliche Zahlungsunfähigkeit, möglicher Staatsbankrott der USA? Ach was.
Augen fest geschlossen
Der Euro zerstört weiterhin die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit vieler EU-Staaten. Griechenland braucht so sicher wie das Amen in der Kirche ein neues Hilfspaket in Milliardenhöhe. Nach Spanien und Italien ist die Eurokrise inzwischen bei der zweitstärksten Wirtschaft Frankreich angekommen. Der deutsche Spargroschen kann nicht werterhaltend angelegt werden. Staatliche Rentenversprechen sind das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt werden. In nächster Zukunft könnten die USA zwei Mal die ganze Weltwirtschaft ins Wanken bringen. Und selbst wenn nicht: Es ist weiterhin kein Konjunkturaufschwung in Sicht, kein einziges der gravierenden finanziellen und wirtschaftlichen Probleme aller entwickelten Industrieländer ist einer Lösung nähergekommen.
All das löst offensichtlich ein zunehmendes Bedürfnis aus, ein geradezu pathologisches Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu entwickeln und zu pflegen. Möglicher US-Staatsbankrott? Ach was, heute gibt es bei der Migros Aufschnitt zum Aktionspreis. Die deutschen Probleme sind nach den Wahlen nicht kleiner als vorher? Na und, wirklich ärgerlich ist, dass die Mass Bier am Oktoberfest fast 10 Euro kostet. Selbst wenn die USA nicht demnächst bankrott gehen, können sie ihre Staatsschulden niemals zurückzahlen? So, so, war aber schon allerhand, wie der America’s Cup dann doch noch von dem anderen Segelboot gewonnen wurde.
Vogel Strauss als Vorbild
Es ist bekanntlich eine üble Verleumdung ohne ein Körnchen Wahrheit, dass der Strauss bei drohender Gefahr seinen Kopf in den Sand oder unter den Flügel stecke. Interessanterweise neigt der Homo sapiens aber, trotz einem Zugang zu Informationen und zu Wissen wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, immer stärker dazu, unübersehbaren Gefahren wirtschaftlicher Art damit zu begegnen, dass er sie einfach ignoriert.
Ist aber auch verständlich. Wer am 2. oder am 18. Oktober aufwacht und fröhlich seinen Tag beginnt, ohne die geringste Ahnung, dass es jeweils am Vortag ganz kräftig hätte rumpeln können, hat ausser unnötigen Sorgen nichts verpasst. Aber nur dann, wenn es nicht kräftig rumpelt.