Der bengalische Königstiger, Panthera tigris tigris, hat eine gute Woche hinter sich. Als globaler Brand Ambassador für allerlei Markenzeugs – Thai-Nudeln und Fussballklubs, Bier und chinesische Mütter, politische Parteien und Hormonpräparate – braucht auch ein populäres Aushängeschild hin und wieder etwas Imagepflege.
Das Dschungelbuch, der neue (und neuaufgelegte) Hollywood-Blockbuster, tut dies ganz leidlich. Er bestätigt Sher Khans Anspruch als König des Dschungels, wenn er auch eine bösere Version als die von 1967 ist. Der Vorgängerfilm aus unserer Jugendzeit zeigte ihn aristokratisch-hochnäsig, aber im Ganzen doch gnädig – solange man ihn nicht zu sehr reizte.
Friedliches Grasen
In der Neuauflage ist Sher Khan uneingeschränkt niederträchtig, aus königlicher Strenge ist Hass geworden. Vielleicht ist er gerechtfertigt, auch wenn der Mensch, der ihm an die Gurgel will, in die Gestalt des treuherzigen Mowgli (der indischstämmige Neel Sethi mit Yankee-Akzent) schlüpft. Sher Khan weiss natürlich, dass auch ein unschuldiger Junge die Rote Blume – die Macht über das Feuer – mit verheerenden Folgen auf sein Dschungelreich loslassen kann.
Am Ende hat sich der Mensch wieder an der Spitze der Nahrungspyramide gehievt. Sher Khan fliegt aus dem Astgewirr ins prasselnde Feuer, und die Tiere können zu ihrem friedlichen Grasen zurückkehren. Sie wissen alle, dass mit Mowgli ein neuer König die Ordnung im Dschungel hergestellt hat. Der Homo sapiens (oder zumindest erectus) wird seine Herrschaft nicht mehr abgeben. Mowglis braver Treueschwur auf das Gesetz des Dschungels und auf seine Wolfsmutter Akeela ist nur Vernebelung.
Indien, politischer Dschungel
Den Tatbeweis hat derselbe Homo schon längst geliefert. Besonders drastisch tat er es gegenüber dem pensionierten König des Dschungels. Nichts kitzelte seine Libido so sehr wie die Jagd auf den Tiger. Im Dschungel des kolonialen Indiens, der Rudyard Kipling die Vorlage lieferte, wurden Rang und Überlegenheit jeweils in der Zahl erlegter Tiger bestätigt.
Wenn der Vizekönig auf der Pirsch war – komfortabel geschützt auf dem Rücken eines Dickhäuters – durfte kein anderer Jagdbegleiter so viele Tiere abknallen wie er. Auch das politische Indien war nämlich ein Dschungel. Mit der Trophäenschau am Ende der Hatz, die toten Tiere zu Füssen der Jagdgesellschaft, demonstrierten die Kolonialherren, wer sich an der Stelle Sher Khans etabliert hatte.
Tiger-Reservate
Der Langzeiteffekt der freien Tigerjagd ist bekannt. Noch im März 1951 schrieb die Reuters-Korrespondentin: ‚India is becoming a hunters’ paradise for Americans ... more glamorous than even the Taj Mahal’. Sie zitierte Regierungsstellen, die schätzten, dass jedes Jahr bis zu eintausend Tiger getötet werden konnten, ‚without seriously affecting the general tiger population’.
Bereits zwei Jahre später hatte der Wind gedreht. ‚Freizeit-Jäger massakrieren Indiens Wildtiere’, schrieb dieselbe Korrespondentin. Falls nicht rasch Schutzgebiete errichtet würden, würde der Tiger in 25 Jahren vollständig ausgerottet sein. Zwanzig Jahre später war die Tigerpopulation trotz Jagdverbot auf (weltweit) geschätzte 1200 Tiere gesunken. Der Alarmruf wurde endlich gehört: Indira Gandhi etablierte 1973 mit Project Tiger 26 Reservate, und innerhalb von weiteren 25 Jahren hatte sich die Zahl der Tiger wieder verdreifacht.
Wachsende Population
Doch Indiens Bevölkerungsdruck, bürokratischer Schlendrian und endemische Korruption mündeten in ein ungehemmtes Wildern für Tigerhäute, -klauen und –zähne. Sie sorgten dafür, dass die Wachstumskurve erneut einen Knick bekam. Politische Apathie gegenüber Wäldern und Schutzgebieten trug das ihre dazu bei, dass im Zielkonflikt zwischen industrieller Entwicklung und Ressourcenabbau Fauna und Flora den Kürzeren zogen. Im Jahr 2007 hatte die Population der Tiger wieder das kritische Minimum von 1300 Tieren erreicht. In einigen Project Tiger-Reservaten gab es keinen einzigen Tiger mehr. Tierschützer sahen erneut das Ende nahen.
Nun hat sich der König des Dschungels ein weiteres Mal aufgebäumt. Letzte Woche meldete sich der vermeintlich Totgeweihte – im Gleichschritt mit seiner Rentrée als Hollywood-Bösewicht – wieder zurück. Bei einer Zusammenkunft des Global Tiger Forum in Delhi gab der WWF die Zahlen seiner letzten Tigerzählung bekannt. Es gibt auf der Welt wiederum rund 3900 Tiere, genug, um den Genpool frisch zu erhalten. Einige Länder Südostasiens sowie Russland sind in diesem Zensus nicht einmal erfasst worden, so dass die Zahl noch höher liegen dürfte. Indiens Anteil wuchs auf 2226 Tiere.
Das populärste Tier der Welt
Der Kerl hat wacker dafür gekämpft, weiterhin als ultimatives Symbol wilder Natürlichkeit anerkannt und attraktiv zu bleiben. In den Reservaten und sogar in den Pufferzonen macht er sich wieder bemerkbar, auch wenn er Augenkontakt möglichst aus dem Weg geht. Vor einem Monat stiessen wir, vierzig Kilometer vom Corbett National Park entfernt, auf Fussabdrücke und Kot - nur wenige Meter von den letzten Reisfeldern und Farmen entfernt. Handkehrum bekommen ihn nur wenige Parkbesucher auch vor die Kamera. Er markiert Präsenz und macht sich dennoch rar. Das ist gut fürs Image des angeblich populärsten Tiers der Welt.
Und manchmal schlägt er zu, als wolle er daran erinnern, dass Zivilisationsnähe seiner Raubtiernatur wenig angetan hat. So am 8. Mai letzten Jahres, als Ustad, der grösste Tiger im Ranthambore National Park in Rajasthan, einen Parkwächter anfiel und zerriss. Rampal Saini hatte sich aus seinem Haus am Rand des Reservats in den Wald vorgewagt, als seine Frau atemlos vom Holzsammeln heimrannte und berichtete, einen grossen Tiger gesehen zu haben. Ihr Mann kehrte nicht mehr zurück.
In den Zoo gesteckt
Die knieschlotternde Folgeaktion des Forest Service liess vermuten, dass sich dieser lieber Haus- statt Wildkatzen hält. Ustad wurde kurzerhand als Man-eater kategorisiert, mit einem Beruhigungsschuss aus dem Verkehr genommen und in einen Zoo gesteckt. Dies löste eine Protestkampagne aus. Umweltschützer erinnerten daran, dass Tiger in der Regel Menschen nur dann angreifen, wenn sie nicht mehr fähig sind, zu jagen, sei es aus Altersgründen, oder weil sie Verletzungen aufweisen. Beides traf auf Ustad nicht zu; er pflegte seine Duftmarken in einem Revier von vierzig Quadratkilometern zu setzen.
In der Folge wurde ruchbar, dass die Schutzbehörde so rasch gehandelt hatte, weil die Tourismusbetriebe in Ranthambore einen Einbruch bei den Besucherzahlen befürchteten. Der Zwischenfall hatte sich just zu Beginn der Hauptsaison abgespielt, vor dem Monsun, wenn eine geringe Blätterdecke Tiere leichter erspähen lässt.
Vermenschlichung
Die Staatsaktion gegen Ustad zeigt aber auch, wie schwer sich das Land, das Kiplings Dschungelbuch inspiriert hatte, mit Wildheit und Natur tut. Das zeigte sich auch bei der Einstufung von Disneys jüngstem Jungle Book durch die Zensurbehörde. Die 3D-Version wurde mit der Einschränkung Parental Guidance freigegeben. Jugendliche unter Sechzehn dürfen ihn nur in Begleitung von Erwachsenen anschauen, denn die hautnahe Ansicht wilder Tiere könnte Kinder traumatisieren.
Es ist wahr, dass der Film gerade Sher Khan als ausgesprochenen Bösewicht darstellt, bei dem man nicht auf die Idee käme, an dessen Barthaaren zu zupfen. Handkehrum sind die restlichen Tiere so unnatürlich drollig dargestellt, dass selbst des Tigers böser Blick künstlich zu wirken beginnt, genauso wie das betörende Liedchen von Ka. Dies gilt auch für Mowglis Wolfsrudel – eine wahre Orgie von Familieninnigkeit. In der wolfgeplagten Schweiz wird diese Vermenschlichung natürlich Wasser auf die Mühlen der Wolfsschützer sein, die jeden Abschuss des Wolfs als Mord taxieren wollen. Ach, denke ich (als Walliser), wäre Akeela doch nur Sher Khan!