Es geschah ausgerechnet am Tag, an dem die Börse von Mumbai ein historisches Hoch erreichte, als die Zentralbank für das erste Quartal des Fiskaljahres ein Wirtschaftswachstum von 8.8 Prozent notierte, und der Zufluss von ausländischem Finanzkapital 17 Milliarden Dollar übertraf, was für das Gesamtjahr ebenfalls einen Rekord verspricht. Doch die Balkenüberschrift der „Times of India“ lautete: „National Shame“. Keine zwei Wochen vor Beginn der Commonwealth-Spiele in Delhi, einer Kleinolympiade der 54 früheren britischen Kolonien und ihres Mutterlands, war die indische Hauptstadt noch weit davon entfernt, die 4700 Athleten und ihren Begleittross zu empfangen und ihnen Wettkämpfe auszurichten.
In den Stadien und im Spielerdorf, auf den Zugangsstrassen und den Parkarealen: Überall wurde noch gehämmert, geputzt, wurden Eisen verlegt und Bäume gefällt und Blumen gepflanzt. Sieben Jahre - eine besonders lange Vorgabe - hatte man den Indern eingeräumt, um die Spiele rechtzeitig zu organisieren. Zwei Milliarden Dollar hat die Regierung dafür bereitgestellt. In diesem Betrag sind die Mittel für die Modernisierung der Infrastruktur der Hauptstadt, einschliesslich zweier Hoch- und U-Bahnen und eines neuen Internationalen Flughafens, nicht einmal enthalten.
Dennoch waren die Stadien vor einem Jahr, als der erste Abgabetermin an den Commonwealth-Sportverband eintraf, immer noch nicht mehr als riesige Baustellen. Danach verstrich Stichtag um Stichtag für die Übergabe – neunzehn insgesamt. Der letzte war am 15. September 2010. Am Samstag, zehn Tage vor Beginn des Sportfests, übernahm die Polizei schliesslich alle Einrichtungen und verhängte über sie aus Sicherheitsgründen eine Art Quarantäne.
Bei "no problem" Alarm
Schon vor zwei Jahren kamen Delegationen des Commonwealth-Sekretariats und der nationalen Spielerverbände nach Delhi, um nach dem Rechten zu sehen. Die residierenden Commonwealth-Botschafter schlossen sich zusammen und übten auf ihre Weise Druck aus: mit Appellen an die Regierung, mit gezielten Indiskretionen in den Medien, mit Besuchen der Stätten und in Begleitung von TV-Kameras. Es nützte nichts. Das Organisationskomitee wimmelte ab, die Minister vertrauten auf die berühmt-berüchtigte Fähigkeit des Landes, mit Krisen umzugehen. Der Chef des Organisationskomitees Suresh Kalmadi, ein dubioser Kongress-Politiker, lachte und rief „no problem“ – ein Ausdruck, der inzwischen jeden Inder in Alarm versetzt.
Vor drei Monaten, als sich zu aller Not noch ein heftiger Monsun abzeichnete und sich die Ministerien gegenseitig die Schuld zuschoben, intervenierte schliesslich Premierminister Manmohan Singh. Spitzenbeamte wurden dem Organisationskomitee vor die Nase gesetzt, und für jedes der 26 Stadien und andere Stätten wurde ein hoher Beamter ausgewählt, der für den Fortgang persönlich die Verantwortung zu tragen hatte. Doch auch dies schien die Organisatoren nicht aus der Ruhe zu bringen. Als Mitte September die 32 Wohnsilos im Spielerdorf übergeben werden sollten, waren diese zwar fertig gestellt, aber die Toiletten stanken, an den Liftwänden hingen rote Striemen von ausgespucktem Betelsaft, Betten waren schwarz vor Dreck, im Keller lag Wasser.
Zynische Scherze mit dem Desaster
Es waren aber nicht nur diese Bilder, die die „Times“ von einer „nationalen Schande“ schreiben liess. Am Tag darauf brach eine Fussgängerbrücke zum Hauptstadion ein. In einer Wettkampfhalle fielen Teile der Decke zu Boden. Und wie sicher war überhaupt die Stadt? Zwei Tage zuvor war ein taiwanesisches TV-Team von Unbekannten angeschossen worden, und ein australischer Journalist hatte sich, mit einer versteckten Kamera unterwegs, im Bazar von Alt-Delhi Chemikalien und Zünder kaufen können, die zur Herstellung von Bomben gebraucht werden – und schaffte sie anschliesslich in ein Stadion. Seit Monaten kommen aus dem terroristischen Untergrund Drohungen. Terroristen sehen in den Spielen „legitime Anschlagsziele“. Dies hat die australische Regierungschefin Julia Gillard in einer unüblich harschen Stellungnahme veranlasst, ihre Sportler vor dem Flug nach Delhi zu warnen – schliesslich habe die indische Hauptstadt seit dem Jahr 2000 vierzehn Terror-Attentate erlebt (in Wahrheit waren es zehn).
Die Inder, die mit dem Risiko des Terrors leben müssen, überspielen ihre Ängste dagegen mit blankem Spott. Das Organisationskomitee und ihr Präsident sind Gegenstand grausamer SMS-Witze. Einer lautet, Suresh Kalmadi habe sich ob all der Kritik in einem Stadion erhängen wollen – ohne Erfolg: die Decke brach ein. Im Mutterland des Commonwealth legt Prinz Charles seiner Mutter ans Herz, doch zu den Spielen zu fahren, denn es sei seine vielleicht letzte Chance, doch noch König zu werden. Oder, angesichts zahlreicher Absagen von Spitzenathleten näher an der Wahrheit: Das Schlamassel ist kein Unfall, sondern vom indischen Sportverband so geplant worden, damit das Land endlich zu Wettkampf-Medaillen kommt. Der Witz um Koenigin Elisabeth greift neben der Angst um die Sicherheit vor Terroranschlägen eine weitere Sorge der Offiziellen auf: Krankheitserreger. Das Sportlerdorf liegt direkt am Jamuna, und nach den grössten Regenfällen in einem Jahrzehnt ist dieser an vielen Stellen über die Ufer getreten. Um die Siedlung herum liegen grosse Tümpel, und trotz des Einsatzes massiver Chemiekeulen ist man der Moskitoplage bisher nicht Herr geworden. In der Haupstadt sind bisher über 2000 Fälle von Dengü-Fieber und noch weit mehr Malariaerkrankungen registriert worden, einige davon mit tödlichem Ausgang.
Der Sportminister als Kassandra
Dass der Monsun die Stadt dieses Jahr besonders schwer heimsuchte, kann man den Organisatoren nicht ankreiden – auch wenn jedermann in Indien weiss, dass sein Verlauf nie vorausgesagt werden kann, und er gerade in den letzten Jahren noch unsteter geworden ist. Das Mitleid der Öffentlichkeit hält sich in Grenzen. Zu haarsträubend war der Schlendrian, und zu gross die Arroganz, mit der öffentliche Gelder verschwendet wurden. Wie so oft in Indien, kam es zudem auch hier zu einem Korruptionsskandal. Zuerst waren es fürstliche Spesenrechnungen, die Mitarbeiter Kalmadis bei Reisen ins Ausland in Rechnung stellten. Dann wurde ruchbar, dass die Gästeunterkünfte, die der Universität Delhi später als Studentenwohnheime dienen sollten, einer privaten Immobilienfirma zum Verkauf als Luxuswohnungen übergeben worden waren.
Die Häme, die sich nun über das Organisationskomitee, die Ministerien und die Stadtregierung ergiesst, ist selbst für die selbstkritische indische Öffentlichkeit starker Tabak. Dies hat nicht nur mit den Verzögerungen, der mangelhaften Bauqualität und dem organisatorischen Desaster zu tun. Vielen Indern ist nicht wohl dabei, dass Milliarden von Dollars für ein extravagantes Ereignis ausgegeben werden, dessen sportlicher Wert zweitrangig ist. Zudem ist das Commonwealth eine Institution, die koloniale Wurzeln hat. In den Augen der Inder hat es seinen Wert inzwischen vollends eingebüsst. Es dient höchstens noch als aussenpolitisches Vehikel der britischen Regierung.
Noch wichtiger ist für viele Inder das Argument, dass Indien trotz seiner wirtschaftlichen Erfolge immer noch ein armes Land ist. Ein früher Kritiker der Spiele, der ehmalige Sportminister Mani Shanker Aiyar, meinte damit nicht, dass das Geld für Nahrungsmittel oder Medikamente für die Ärmsten ausgegeben werden sollte. Aber hätte man es zur Sanierung der erbärmlichen sportlichen Infrastruktur der Schulen – und damit für die Volksgesundheit – eingesetzt, dann, so Aiyar, wäre dies den Idealen des Sports viel näher gekommen. So sehr man diesem Argument Beifall zollen mag, so merkwürdig (und typisch für den politischen Umgangston im Land) war Aiyars Reaktion auf den Entscheid seiner eigenen Regierung für die Ausrichtung der Spiele. Während zweier Jahre boykottierte er als Sportminister die ersten Vorbereitungsarbeiten, bis er schliesslich den Hut nehmen musste. Danach spie er weiterhin Gift. Noch vor drei Wochen liess er verlauten, er würde sich freuen, wenn die Spiele ein Misserfolg würden. Nun geniesst er in den TV-Tischrunden den Ruf einer Kassandra – eines Orakels allerdings, das selbst dafür sorgte, dass seine Prophezeiung eintraf.