Die Bombardierungen russischer und syrischer Kampfflugzeuge in der Ostghouta, nah bei Damaskus, und in Idlib, östlich der türkischen Grenze, haben zugenommen. Aus Idlib wurden am vergangenen Mittwoch 70 zivile Todesopfer von Luftangriffen gemeldet, am Tag zuvor waren es 23. Dazu kamen Chloringas-Attacken, die offenbar von syrischen Luftangriffen ausgingen und Verwundete forderten, aber – wie immer – von Syrien bestritten werden.
Unnachgiebige Belagerung durch Regierungstruppen
In der Ghouta herrschen schlimmste Belagerungsnotstände mit zerstörten Häusern, Nahrungsmangel, Mangel an Medikamenten aller Art und 600 Schwerverletzten. Sie müssten in Spitäler ausserhalb der Kampfzonen transportiert werden, doch die Regierungstruppen lassen dies nicht zu. Das Gebiet liegt unter ständigen Luftangriffen.
In der ländlichen Region sind gegen 400’000 Menschen eingeschlossen, seit fünf Jahren unter Belagerung durch die Regierung. Die Bombardierungen haben gegenwärtig einen Höhepunkt erreicht. Opferzahlen aus verschiedenen Quellen divergieren. Man kann erkennen, dass die verschärften Bombardierungen am 29. Dezember begannen. Die Gesamtzahl der Opfer, die in London von der Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Syrien ermittelt wurde, ergibt 400 Tote seit jenem Datum, davon 103 Kinder und 69 Frauen.
In der gegenwärtigen Woche hat sich die Gangart der Angriffe nochmals verschärft. Am Dienstag, 6. Februar, wurden zehn Dörfer in der Ghouta bombardiert. 80 Zivilisten starben, unter ihnen 21 Kinder. Am Tag darauf nannten die lokalen Rettungskräfte 23 Tote in drei Dörfern, die Beobachtungsstelle in London eine Gesamtzahl von 34. Die Beobachter aus London merkten an, auch in den nahegelegenen Wohngebieten, die unter der Herrschaft der Asad-Regierung stehen, habe es durch Mörser- und Artilleriebeschuss aus den von den Aufständischen gehaltenen belagerten Zonen ebenfalls „zahlreiche Tote“ gegeben.
Humanitärer Notstand
Der Regionalkoordinator der Uno für humanitäre Aktionen, Panos Mumtzis, erklärte in Damaskus, die Hilfswerke stünden „vor dem Zusammenbruch“. Er sagte: „Wir sind nicht in der Lage, das Gewissen oder das Gehör der Politiker oder der Machthaber zu erreichen, die die Entscheidungen treffen“, und er fügte hinzu, es sei skandalös, dass die Regierung (das ist jene von Damaskus) „seit zwei Monaten keine Hilfslieferungen in die Ostghouta zulässt.“
Die Bombardierungen finden statt in Gebieten, die theoretisch durch die „De-Eskalationsabkommen“ geschützt sein sollten, die in Astana auf russische Initiative hin zwischen Russen, Iranern und Türken mit angeblicher Zustimmung durch Damaskus ausgehandelt wurden. Wobei Damaskus sich immer nur dann an solche Abmachungen gehalten hat, wenn sie aus taktischen Gründen für die syrische Armee nützlich waren.
Erhöhte Risiken für die Drahtzieherstaaten
Die gegenwärtige Verschärfung der Kämpfe führt dazu, dass die neben und über den eigentlichen Bürgerkriegsparteien präsenten Drahtzieherstaaten erhöhte Gefahr laufen, direkt miteinander zusammenzustossen. Die beteiligten Aussenstehenden sind auf Seiten Asads in erster Linie Russland, jedoch auch Iran und zahlreiche schiitische Milizen aus Libanon, Iran, Irak, Syrien, Afghanistan. Ihnen ist gemeinsam, dass sie unter iranischem Einfluss stehen.
Von der Türkei kann man sagen, dass sie eher irgendwo in der Mitte steht: zwischen den Pro-Asad-Kräften und denjenigen, die den Rebellen zuneigen. Ankara sieht gegenwärtig die syrischen Kurden als Hauptfeind, den es aktiv bekämpfen will. Dadurch stellt Ankara sich zwischen Damaskus und die Amerikaner, weil die syrischen Kurden den USA im Kampf gegen den IS als Fussvolk dienten und weiterhin dienen. Washington erklärt denn auch, seine Berater und Kampfflugzeuge würden auf syrischem Boden bleiben, um zu verhindern, dass der IS sich von neuem ausbreitet.
Damaskus hat zwar erklärt, dass es die Gegenwart von türkischen Truppen und pro-türkischen Milizen auf syrischem Boden missbillige, und sogar gedroht, es werde die türkischen Kampfflugzeuge über Afrin „abschiessen“. Doch unternommen hat Asad bisher nichts, um sich der türkischen Aktion zu widersetzen.
Die Amerikaner stehen nach wie vor Damaskus ablehnend gegenüber und neigen den Rebellen gegen Asad zu (obwohl Trump als Wahlkandidat davon sprach, dass Asad Unterstützung verdiene) – jedoch natürlich nicht allen Rebellen. Die noch überlebenden Kämpfer des IS und jene der in Idlib mächtigen HTS (füher Nusra-Front) sind für Washington Hauptfeinde, mehr noch als die syrische Regierung.
Israel gegen Iran in Syrien
Eine ähnliche, aber auch wieder abweichende Position nimmt Israel ein. Für Tel Aviv ist der Hauptfeind durch die in Syrien stehenden iranischen Truppen und pro-iranischen Milizen gegeben, Asad ist bloss ein Nebenfeind. Die Kurden werden mit Sympathie beobachtet, doch womöglich will man mit den Türken nicht brechen. Dies, obwohl Erdogan höchst aktiv dagegen protestiert, dass Jerusalem die israelische Hauptstadt sein soll. Mit Russland wiederum sucht Israel ein gütliches Einvernehmen in Bezug auf Iran und dessen Präsenz in Syrien. Israel hofft, Russland dazu zu bewegen, dass es eine allzu nahe Stationierung der Iraner und ihrer Hilfsmilizen an der syrisch-israelischen Waffenstillstandslinie verhindert.
Gegen Asad und seine Luftwaffe und Luftabwehr geht Israel jeweils dann vor, wenn Iran Waffen für Hizbullah über Syrien nach Libanon transportiert. Israel droht auch, es werde eingreifen, falls Iran dazu übergeht, in Syrien Produktionsstätten für den Bau zielsuchender Raketen zu errichten.
Die jüngste Episode in diesem stillen Krieg Israels gegen Iran auf syrischem Boden ist die Meldung eines israelischen Raketenangriffs auf Damaskus, in der es heisst, die Israeli hätten „aus dem libanesischen Luftraum“ Raketen auf Ziele in Syrien abgefeuert. „Die meisten davon“ seien durch die syrische Luftabwehr abgeschossen worden. Welche Schäden die nicht abgefangenen Raketen anrichteten, sagten die Syrer nicht, und die Israeli verweigerten alle Kommentare. Doch entgegen lange geübter Praxis dementierten sie die syrischen Meldungen auch nicht.
Befürchtung eines erweiterten Kriegs
Über diesen Aspekt der syrischen Krise hat Crisis Watch soeben einen Bericht verfasst. Diese NGO analysiert kritische Situationen weltweit und liefert Anregungen dazu, wie Krisen bewältigt oder entschärft werden könnten. Der Bericht von Crisis Watch über die Gefahren eines israelisch-iranischen Zusammenstosses auf syrischem Boden trägt den sprechenden Untertitel „Vermeiden eines weiteren Krieges in Syrien“.
Über Israel und Iran im syrischen Raum sagt die NGO, im Grunde seien die Russen die einzige Macht, die in der Lage sei, die Lage zu entschärfen. Bisher, so stellt die NGO fest, hätten die Russen stillschweigend auf Israel Rücksicht genommen, indem sie nicht mit Hilfe ihres den ganzen syrischen Raum überdeckenden Radarschirmes eingriffen, wenn die Israeli ihren „Roten Linien“ in Syrien Nachachtung verschafften. Das war jeweils der Fall, wenn sie iranische Waffentransporte, die durch Syrien nach dem von Hizbullah gehaltenen Raum in Libanon gehen sollten, auf syrischem Territorium bombardierten.
Kürzlich, im vergangenen Dezember, haben die Russen auch toleriert, dass die Israeli den Bau von Anlagen bei Damaskus bombardierten, von denen angenommen wurde, sie könnten entweder für die Unterbringung von iranischen Truppen oder pro-iranischen Milizen errichtet werden, oder vielleicht auch – wie andere Vermutungen lauten – für die Herstellung von „precision missiles“, hochentwickelten zielsuchenden Raketen.
Drohungen von beiden Seiten
Die wachsende Selbstgewissheit des Asad-Regimes kommt darin zum Ausdruck, dass es über derartige israelische Lufteingriffe nicht mehr schweigt, sondern erklärt, die syrische Raketenabwehr habe sie „erfolgreich“ bekämpft. Auch Israel hat seine in dieser Hinsicht geübte Stillschweigepolitik leicht gelockert. Ein ehemaliger Luftwaffenkommandant erklärte öffentlich, seit 2015 (als die Russen in Syrien eingriffen) habe Israel gegen hundert Luftangriffe auf iranische Waffentransporte in Syrien geflogen.
Nach dem Bericht von Crisis Watch hat Israel nun seine Roten Linien verschärft und präzisiert. Sie umfassen nun auch ein Veto gegen die Möglichkeit iranischer Luft- oder Marinebasen in Syrien, sowie iranischer Waffenfabriken oder Raketenproduktionsstätten in Syrien. Auch die Schaffung eines iranischen Korridors durch Süd- oder Nordsyrien bis ans Mittelmeer würde von Israel nicht toleriert.
Unklare russische Position
Auf der diplomatischen Seite jedoch zeichnet sich ab, dass die Russen nicht bereit sind, den Israeli zuzusichern, dass Iran sich nicht dauerhaft in Syrien festsetzt. Die russische Position ist eher: Syrien ist souverän, und dort geschieht, was die Asad-Regierung beschliesst, auch in Bezug auf Iran und dessen Hilfskräfte. Der Bericht von Crisis Watch unterstreicht allerdings auch, dass die Russen über grosse Möglichkeiten verfügen, Einfluss auf Asad zu nehmen. Das lässt immerhin die Hoffnung zu, dass die Russen im eigenen Interesse Syrien nach Möglichkeit beruhigen und zu vermeiden suchen, dass dort ein heisser Krieg mit Israel ausbricht.
Denn wenn das geschähe, liefen die Russen Gefahr, all ihre bisher errungenen Vorteile in Syrien zu verlieren. Die USA würden wahrscheinlich notfalls auf der israelischen Seite Partei ergreifen und die Russen in Syrien konfrontieren.
Zusammenstoss jenseits des Euphrats
Die Gefahr einer amerikanisch-russischen Konfrontation hat auch an der ostsyrischen Front im Euphratgebiet zugenommen. Ein amerikanischer Offizier gab am Mittwoch in Ergänzung eines offiziellen Communiqués der amerikanischen Luftaktion „Inherent Resolve“ bekannt, die amerikanische Luftwaffe habe gegen die syrische Armee eingegriffen und „nach unserer Schätzung gegen hundert Tote“ verursacht. Dies sei geschehen auf der Ostseite des Euphrats – trotz den Abkommen, die zwischen den Russen und den Amerikanern bestehen und die den Euphrat als Grenze zwischen den beiden Mächten festlegen.
Westlich des Stroms sollen danach die Russen, östlich desselben die Amerikaner ihre Luftwaffen zum Schutz ihrer jeweiligen syrischen Verbündeten einsetzen. Dieses Abkommen – informeller Natur, zwischen Offizieren, nicht zwischen Staaten – bezieht sich allerdings bloss auf die Luftwaffen der beiden Grossmächte, nicht auf deren Hilfskräfte aus syrischen und syro-kurdischen Mannschaften oder auch aus pro-iranischen Milizen sowie auch nicht ausdrücklich auf die syrische Regierungsarmee.
US-Luftangriff gegen syrische Offensive
Nach Darstellung des anonym gebliebenen amerikanischen Offiziers waren die syrische Armee und deren Hilfskräfte über den Euphrat hinweg gegen ein „Hauptquartier“ vorgerückt. Dort waren pro-amerikanische Truppen der SDF (Syrische Demokratische Kräfte), bestehend aus syrischen Kurden und deren arabischen Verbündeten, stationiert, und zwar zusammen mit amerikanischen Offizieren und Einheiten „in beratender Funktion“. Als sich die Geschosseinschläge der Angreifer bis auf 500 Meter an das „Hauptquartier“ genähert hätten, habe die amerikanische Luftwaffe eingegriffen. Die erwähnten angeblich hundert Angreifer seien durch die SDF getötet worden. Diese selbst hätten nur einen Verwundeten zu beklagen gehabt.
Wenn diese Darstellung zutrifft, handelt es sich um den bedeutendsten Zusammenstoss zwischen der amerikanischen Luftwaffe und der syrischen Armee, den es bisher gegeben hat. Welche Folgen er haben wird, bleibt zunächst offen. Es gibt ohnehin Spekulationen darüber, dass Trump und Macron einen militärischen Eingriff gegen Syrien in Betracht zögen, um Syrien für den erneuten Einsatz von Giftgas in der Ghouta und in Idlib zu bestrafen. Jedenfalls ist klar, dass Zusammenstösse wie jener in Ostsyrien die Gefahr weiterer Eskalationen zwischen den Russen und den in Syrien in „beratender Funktion“ stationierten Amerikanern sowie deren Luftwaffe steigern.
Washington hat deutlich gemacht, dass es vorläufig in Ost-Syrien „in beratender Position“ für die kurdisch gesteuerten SDF zu verbleiben gedenke. Die Begründung dafür lautet, Washington wolle verhindern, dass der IS dort wiederauflebe. Damaskus und Moskau haben jedoch unterstrichen, dass sie die Präsenz der Amerikaner auf syrischem Boden als illegal betrachten. Wenn diese Präsenz zu Verlusten für die syrische Regierungsarmee führt, besteht die Gefahr, dass die Russen sich zum Eingreifen veranlasst sehen. Schliesslich stehen sie ja in Syrien, um ihren Verbündeten Asad dort zu verteidigen.
Eine gewisse Vorsicht in Moskau
Es ist jedoch auch deutlich, dass die Russen gewillt sind, derartigen Konfrontationen womöglich aus dem Wege zu gehen. Sie kommentierten das erwähnte Vorgehen der Amerikaner östlich des Euphrats mit der Bemerkung: „Die Pro-Regierungs-Militanten hatten ihre Aufklärungsaktionen nicht mit Russland koordiniert.“
Die syrische Propaganda bestätigte die „neue Aggression“ und behauptete, sie zeige, wie die USA versuchten, den Terrorismus in Syrien zu unterstützen. Die Menschenrechts-Beobachtungsstelle in London sprach von bloss 20 Todesopfern und stellte fest, der Zusammenstoss habe sich nahe dem Flecken Khasham ereignet, der südöstlich von Deir az-Zor auf der östlichen Seite des Euphrats liegt. Dort war es auch schon zuvor zu Zusammenstössen zwischen syrischen Truppen und SDF-Kämpfern gekommen.
Dies alles wirft die Frage auf, ob die gegenwärtige Verschärfung des Krieges fortdauern kann, ohne zu einer weiteren Ausweitung der syrischen Zwiste zu führen. Der Stellvertreterkrieg drohte sich dann bedrohlich einem direkten Krieg der „Drahtziehermächte“ zu nähern.