Die norwegische Eingliederung ist einmalig – ein Sonderfall, wie das 2012 in Oslo publizierte Weissbuch immer wieder betont. Nur nebenbei erfährt man, dass der zur EU gehörende Wirtschaftsraum eigentlich eine Liebe auf den zweiten Blick war. Norwegen kokettierte nämlich nach 1992 ebenfalls mit einer EU-Mitgliedschaft und erst als die norwegischen Stimmbürger diese 1994 in einem Referendum abgelehnt hatten, begann man sich im Wirtschaftsraum einzurichten. Norwegen wurde jetzt, wie das Weissbuch in seinem Rückblick festhält, zum „intimsten Aussenseiter der EU“.
Die wirtschaftliche Eingliederung mit Übernahme von hunderten von Gesetzen und tausenden von Regelungen, an deren Entstehung man nicht beteiligt war, verlief offenbar ganz harmonisch. Und da ausser Island und Liechtenstein niemand diese Rolle beanspruchte, wurde Norwegen zum allseits beliebten Sonderfall.
Bilaterale stossen „eindeutig an Grenzen“
Auch die EU war zufrieden. Die von der Schweiz ausgehandelte Möglichkeit, Vorbehalte gegen ein Gesetz vorzubringen und diese zwischen EWR und EU zu bereinigen, wurde praktisch nicht beansprucht. Die Zusammenarbeit mit Oslo funktionierte so reibungslos, dass die vertragliche Anbindung vielen Beamten in Brüssel gar nicht bewusst war. Die früheren EFTA-Mitglieder Österreich, Finnland und Schweden haben sich inzwischen der EU angeschlossen.
Ganz anders ging es bei den bilateralen Verhandlungen mit der Schweiz, die in den letzten 20 Jahren in alle Richtungen wucherten. Die Ergebnisse blieben stehen, während die Zeit und die Gesetzesproduktion in Brüssel weiter liefen. Schliesslich unterschieden sich die Schweizer Bestimmungen und Auslegungen immer mehr von jenen der EU. Das Unbehagen im Europäischen Rat (Gremium der 27 Regierungschefs) wurde so stark, dass dieser 2010 erklärte, die bilaterale Zusammenarbeit mit der Schweiz führe zu untragbaren rechtlichen Unsicherheiten und die bilaterale Zusammenarbeit stosse jetzt „eindeutig an Grenzen.“
Natürlich überlegt man in Brüssel auch, warum die Bürokratie der 27 Mitgliedstaaten eine spezielle Abteilung brauche für die bilaterale Beziehung zur Schweiz und eine weitere für den EWR-Mechanismus mit Norwegen, Island und Liechtenstein. Zudem zeigen Randstaaten wie Marokko, die Ukraine und Israel Interesse für irgendeine Form der wirtschaftlichen Anbindung an die EU oder gar eine spätere Mitgliedschaft. Liesse sich da nicht ein Modell finden mit einheitlicher und weniger aufwendiger Abwicklung?
Die „am besten integrierten Aussenseiter“
Solche Nachbarn würden natürlich Norwegen missfallen. Die reichen Nordländer bezeichnen sich stolz als die in der EU „am besten integrierten Aussenseiter“. Wenn man von Liechtenstein und Island absieht, so musste Oslo seine Position mit niemand teilen, denn nach 1995 hat sich niemand mehr um Eintritt in den EWR bemüht. Diese Anbindung an die EU ohne Mitgliedschaft und Mitbestimmung schien nicht genügend attraktiv.
Während Norwegen in Brüssel als Musterknabe empfunden wird und die Schweiz als zeitraubender Problemfall, sitzen die beiden Länder beim Umfrageinstitut Eurobarometer friedlich nebeneinander – nämlich als die beiden Länder, welche die EU-Bürger am liebsten zu Mitgliedern machen würden. Die Liebe ist vielleicht nicht ganz selbstlos, denn Norwegen steht bei den europäischen Pro-Kopf-Einkommen an erster und die Schweiz an zweiter Stelle. Der Reichtum der beiden Länder wird allerdings unterschiedlich bewertet. In Norwegen stehen Öl und Erdgas für ein Fünftel der Wertschöpfung und die Hälfte des Exports. Die EU-Bürger haben Verständnis dafür, dass die Nordländer ihre Bodenschätze nicht teilen wollen. Weniger grosszügig wird die Schweiz mit den vielen ausländischen Firmensitzen und dem Image einer Steueroase eingestuft. Man nimmt eben an, dass ein Teil des Reichtums auf Kosten der Steuereinnahmen bei den Nachbarn entstand.
„Ölscheich mit blauen Augen“
Norwegen wird im Weissbuch als Lieblingsmitglied (privileged partner) der EU bezeichnet. Die Nordländer wurden scherzhaft auch „Ölscheichs mit den blauen Augen“ genannt. Sie unterscheiden sich von den südländischen Artgenossen durch ihre sozialdemokratische Gesinnung. Mit dem Reichtum deckt der Staat Ausbildung, Krankenversorgung und ein gesichertes Alter. Aus dem Öleinkommen wird aber auch ein Spezialfonds für künftige Generationen finanziert, die dereinst – nach der Erschöpfung der Ölvorkommen – auch noch etwas vom Reichtum haben sollen.
Mit zentralen Lohnverhandlungen und hohen Steuern wird der Gegensatz zwischen Arm und Reich in erträglichem Rahmen gehalten. Norwegen lässt auch das Ausland teilhaben. Ein Prozent des nationalen Einkommens geht in die Entwicklungshilfe. Bei den EU-Kohäsionszahlungen für den Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern steht Norwegen mit knapp 5 Millionen Einwohnern im Rang 10. Und das Land stiftet (pro Kopf berechnet) auch die grössten Beiträge an kulturelle Aufgaben in den ehemals zum Ostblock gehörenden Ländern Europas.
Musterknabe und Querschläger?
Vergleicht man die rund 120 bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU mit dem norwegischen EWR-Abkommen und den dazu gekommenen Ergänzungen, so entsteht der Eindruck, dass die beiden Staaten innert 20 Jahren in vergleichbarem Masse mit der Europäischen Gemeinschaft verwachsen seien. Nur verlief die rechtliche Anbindung im Falle von Norwegen harmonischer, weil die populistische Polemik fehlte. Sprachen Schweizer Parlamentarier hämisch vom „autonomen Nachvollzug“, so hiess dies in Oslo „Fax-Demokratie“ und später dank Internet nur noch „Downloading“. Die unter Leitung der Schweiz im Abkommen von 1992 für die EWR-Staaten ausgehandelte Möglichkeit der Rückweisung von Regelungen wurde kaum beansprucht.
Ist Norwegen also ein Musterknabe und die Schweiz ein Querschläger? Ein EU-Beamter formuliert es so: Die Schweiz ist „nicht ein Modell, sondern ein Unfall“. Verunfallt ist die Schweiz bei der Volksabstimmung am 6. Dezember 1992. Heute fordert die EU eine neue Grundlage. Man diskutiert über einen EWR II, der mehrere Zwecke erfüllen könnte.