Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die aussenpolitischen Beziehungen zwischen England und dem Deutschen Reich gespannt. Hauptgrund war das Flottenbauprogramm, das der Staatssekretär des deutschen Reichsmarineamts, Grossadmiral Tirpitz, mit Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. seit 1897 vorantrieb. Geplant war eine massive Verstärkung der deutschen Flotte mit modernsten Grosskampfschiffen.
Schriller Patriotismus
Dieser Plan, Resultat eines überhitzten Nationalismus und der weit verbreiteten Technik-Euphorie, bedeutete für die Kolonialmacht England nicht nur einen Affront, sondern auch eine Bedrohung, die das Land nicht hinnehmen wollte. Der schrille Patriotismus der interessierten Kreise in Deutschland, aber auch die unbedachten Äusserungen des Kaisers selbst heizten die Stimmung zusätzlich an.
Angells „The Great Illusion“ entstand unter dem Eindruck dieser angespannten Situation und in der Hoffnung, einen drohenden Konflikt mit Deutschland zu verhindern. Angell besuchte die Schulen in England und ein Lycée in Frankreich und studierte darauf Wirtschaftswissenschaften an der Universität Genf. Er beschloss, nach Amerika auszuwandern, und hielt sich einige Jahre in Kalifornien auf, wo er sich als Weinbauer und Cowboy durchschlug und Artikel für die lokale Presse schrieb. Nach Europa zurückgekehrt, führte er seine journalistische Laufbahn fort. Er kommentierte kritisch den Burenkrieg und setzte sich für den in Frankreich zu Unrecht der Spionage beschuldigten Hauptmann Dreyfus ein. Zwischen 1905 und 1914 war er Chefredaktor der Pariser Ausgabe des „Daily Mail“ mit Sitz in Paris.
Krieg lohnt nicht
Angells Buch ist das Buch ein Pazifisten, aber eines Pazifisten der besonderen Art. Auch ihn treibt die Frage um, wie der Friede zu sichern sei; aber er glaubt nicht, dass dies, wie die Mehrzahl der Pazifisten damals meinte, durch die sittliche Besserung des Menschen und durch die verbesserte Einsicht in die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns zu erreichen sei.
Die Hauptthese von Angell lässt sich leicht zusammenfassen. Der Mensch ist, sagt er, ein Mischwesen aus guten und bösen Eigenschaften und wird sich nicht verändern und friedliebend werden; aber er wird einsehen oder zur Einsicht gebracht werden können, dass der Krieg in der modernen Welt sich finanziell nicht mehr lohnt. „Der Verfasser versucht zu zeigen“, heisst es in der Einleitung, „dass ein Krieg, selbst ein siegreicher, nicht mehr imstande ist, die materiellen Ziele eines Volkes zu verwirklichen.“
Das Beispiel der Schweiz
Angell leugnet nicht, dass Kriegszüge, wie sie in der vorindustriellen Welt durchgeführt wurden, dem Angreifer einen wenigstens zeitweisen Gewinn bringen konnten. In der industriellen Welt jedoch, die durch Arbeitsteilung, das moderne Verkehrswesen und das über die territorialen Grenzen hinausgreifende Wirtschaftswachstum charakterisiert sei, bringe Eroberung nichts. Sie zerstöre im Gegenteil kommerzielle Netzwerke, die man in friedlicher Kooperation zwischen den Völkern ausbauen und nutzbar machen könne.
Angell stützt seine These durch historische Fakten. Am Beispiel der Schweiz, meint er, lasse sich schön zeigen, wie ein neutraler, friedlicher Kleinstaat, „der nur durch eine Operettenarmee von einigen Tausend Mann verteidigt wird“, sich ein lukratives und weltweites Netz von Handelsbeziehungen aufgebaut habe, während sich die grossen Kolonialmächte, immer wieder in kostspielige und wenig einträgliche Kriege verwickelt hätten.
Zusammenhalt durch Arbeitsteilung
Am Beispiel der Einverleibung Elsass-Lothringens nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zeigt Angell, dass der deutsche Sieg und selbst die Auszahlung einer grossen Kriegsentschädigung an das Deutsche Reich langfristig nicht profitabel gewesen seien. Folgen dieses Sieges seien vielmehr höhere Verwaltungskosten und eine dauernde Verschlechterung des deutsch-französischen Verhältnisses und der gegenseitigen Handelsbeziehungen gewesen.
Die Annexion habe ferner finanzielle Krisen, eine steigende deutsche Auswanderung und den Aufstieg des Sozialismus nicht verhindert. „Die Beziehungen zwischen den Staaten“, schreibt Angell, „sind in rascher Wandlung begriffen zufolge der rasch wechselnden Verhältnisse, dank der durch immer stärkere Verkehrsmittel immer weiter geförderten Arbeitsteilung. Die gesteigerte Arbeitsteilung bewirkt ihrerseits einen Zustand notwendiger gegenseitiger Abhängigkeit unter den beteiligten Ländern. Dieser Zustand bewirkt hinwiederum notwendigerweise die Zurückdrängung des Faktors der physischen Gewalt in den internationalen Beziehungen.“
Das Ideal des Krieges
In mehreren erweiterten Fassungen seines sehr erfolgreichen und in viele europäische Sprachen übersetzten Buches trat Angell den Thesen verschiedener Militärschriftsteller entgegen, die in Anlehnung an Charles Darwins Evolutionslehre im Krieg den unausweichlichen, biologisch notwendigen „Kampf ums Dasein“ sahen. Nicht die Aufrechterhaltung des Friedens sei das Ziel der Politik, behauptete etwa der deutsche Kavalleriegeneral Friedrich von Bernhardi in seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg“: Im Krieg, nicht im Frieden erweise sich die Lebenskraft einer Nation.
Die Pazifisten strafte Bernhardi mit Verachtung. Sie untergrüben, seiner Ansicht nach, die höchste Bestimmung menschlichen Lebens, welche darin bestünde, für Ideale sein Leben hinzugeben. Diese Haltung war im Zeitalter des Nationalismus nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa weit verbreitet. Angell zitiert auch den französischen Philosophen und Religionshistoriker Ernest Renan, der schrieb: „Der Mensch lebt nur durch Anstrengung und Kampf. An dem Tage, an dem die Menschen ein grosses friedliches Römisches Reich schaffen, ein Reich ohne äussere Feinde, an dem Tage werden sie in die grösste moralische und geistige Gefahr geraten.“
Falsche Analogie
Solchen Auffassungen tritt Norman Angell mit aller Entschiedenheit entgegen. Er ist der Meinung, dass die Gleichsetzung der darwinschen Evolutionstheorie mit dem menschlichen Entwicklungsgang eine falsche Analogie darstelle. Die Bestimmung des Menschen sei, stellt er fest, nicht der Kampf gegen seinesgleichen, sondern vielmehr die Beherrschung der Natur, die es zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu zähmen und zu nutzen gelte.
Angell knüpft hier an einen liberalen Arbeitsbegriff an, wie er sich im 18. Jahrhundert zu verbreiten begann. Demnach war es das Privileg des Menschen gegenüber dem Tier, durch seiner Hände Arbeit gegen den rohen Naturzustand anzukämpfen und so einen Zivilisierungsprozess voranzutreiben, der höheren Wohlstand und grössere Freiheit ermöglichte. Aus solcher Sicht musste jedem vernünftigen Menschen klar werden, dass nicht Kampf und Krieg, sondern Kooperation und Wettbewerb das Grundprinzip menschlichen Handelns darstellten.
Die ersten Friedenkonferenzen
Doch eben mit dieser Vernunft des Menschen stand es nicht zum Besten. Zu dem Zeitpunkt, da Angell über Möglichkeiten zur Vermeidung des Krieges nachdachte, 1899 und 1907, tagten in Den Haag die ersten Friedenskonferenzen. Die Anregung dazu war vom russischen Zaren ausgegangen, die holländische Königin Wilhelmina hatte das Gastrecht gewährt, Politiker und Juristen aus über vierzig Staaten waren herbeigeeilt. Ein Durchbruch in der zentralen Frage der Friedenssicherung wurde indessen nicht erzielt; immerhin gelang es, sich in der „Haager Landkriegsordnung“ zu einer Reihe von Bestimmungen durchzuringen, die auf einen weniger inhumane Kriegsführung abzielten und die zum Teil noch heute gültig sind. Gegen den Bellizismus der führenden europäischen Militärs aber waren diese Friedenskonferenzen machtlos und das Wettrüsten konnten sie nicht verhindern.
Angell war, wie gesagt, ein Pazifist der besonderen Art. Er achtete die moralischen Beweggründe und das emotionale Engagement der „Friedensfreunde“, sah aber in der Ächtung der Gewalt kein praktikables Mittel. Auch hielt er am Recht zum Einsatz von Waffengewalt zur Selbstverteidigung fest. Dabei betonte er, dass die Rüstung nicht laufend zu verstärken, sondern jeweils dem militärischen Bedrohungsgrad anzupassen sei.
Ernste Gedankenarbeit
Patriotismus war für den Autor keine Untugend. Er wurde es aber dann, wenn er durch Presse und politische Propaganda zur Massenhysterie hochgepeitscht wurde. Angell war kein Schwärmer; er argumentierte rational und ging höflich auf die Argumente seiner Gegner ein. Er rechnete nicht mit raschen Lösungen, blieb aber immer zuversichtlich. Jahrhunderte habe es gedauert, schrieb er, bis man Hexenverfolgung und Inquisitionsgerichte als unwirksame Mittel zur Verteidigung der Religion erkannt habe.
Genauso würde es Zeit brauchen, bis die politische Vernunft erkenne, dass der Krieg sich nicht lohne und den Zivilisierungsprozess behindere. Sein Buch schloss Angell mit den Worten: „Und doch darf man nicht vergessen, dass die Welt nicht von selbst vorwärts kommt. Die Menschen müssen daran arbeiten; Anschauungen entwickeln sich nicht von selbst, sondern durch ernste Gedankenarbeit, und nur die bewusste Anstrengung entscheidet in letzter Linie über jeglichen Fortschritt. Geschieht dies nicht, was haben wir dann zu erwarten? Sollen wir in blindem Gehorsam gegenüber einem primitiven Instinkt und alten Vorurteilen, gekettet durch alte Schlagworte und jene seltsame Trägheit, die einer Revision althergebrachter Ideen abhold ist, auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet ohne Ende eine Situation von neuem durchmachen, von der wir uns auf religiösem Gebiet losgemacht haben?“
Friedensnobelpreis 1933
„The Great Illusion“ oder, wie das Buch in einer deutschen Ausgabe genannt wurde, „Die falsche Rechnung“, hat weder den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg verhindert. Angell aber hielt mit bemerkenswerter Festigkeit an seinen Thesen fest und setzte sich als Unterhausmitglied der Labour Party und mit weiteren Büchern für die internationale Friedenssicherung ein. Er wurde dafür verschiedentlich ausgezeichnet und erhielt 1933, im Jahr, das Hitler an die Macht brachte, den Friedensnobelpreis. Er durchlebte und durchlitt auch den Zweiten Weltkrieg und starb im Jahre 1967. Im folgenden Jahr marschierten die Truppen der vereinigten Ostblockstaaten in der Tschechoslowakei ein und zerfetzten die zarte Blume des „Prager Frühlings“.
Der Titel von Angells erstem Buch bleibt dank des grossen Films, den Jean Renoir 1937 mit den Schauspielern Jean Gabin, Pierre Fresnay und Erich von Strohheim gedreht hat, in Erinnerung. Norman Angell, einst weltberühmt, ist heute fast völlig vergessen.