Auch dieses Unglück war, wie so oft in Indien, längst prophezeit worden. Blogger, Lokalpolitiker, Zeitungen sprachen seit Jahren von der engen Fussgängerbrücke mitten in Mumbai als einem „desaster waiting to happen“. Am letzten Freitag kam es dann zu jenem perfekten Sturm, der diese Verbindung zwischen den Lokalbahnhöfen „Prabhadevi“ und „Parel“ in eine apokalyptische Vision verwandelte.
Der Monsun hatte noch nicht nachgelassen, und wegen regenbedingten Verspätungen waren zur morgendlichen Stosszeit mehrere Züge in kurzen Abständen an den beiden Bahnhöfen der „Western“ bzw. „Central Railways“ angekommen. Die Treppen sowie die Brücke selber wurden zu einem dicht gepackten Strom menschlicher Körper, der sich in Richtung Westausgang bewegte.
Ein Platzregen liess die Passanten am Ende der Ausgangstreppe anhalten, um unter dem Vordach auf das Ende des Wassergusses zu warten. Dies brachte die Masse der von hinten nachstossenden Menschen zum Stocken, doch von hinten drängte es vorwärts. Einem Lastenträger fiel sein grosses Gepäckstück vom Kopf, der Druck erhöhte sich, Panik setzte ein, Menschen wurden zwischen Körpern auf den Boden gerungen, Füsse trampelten über sie hinweg. Am Ende waren 23 Menschen tot, und über hundert waren zum Teil schwer verletzt.
Überforderte Infrastruktur
Die Vorortszüge von Mumbai transportieren mithilfe eines ausgeklügelten elektronischen Fahrplans jeden Tag 7,5 Millionen Pendler, aber auf einer Infrastruktur mit Bahnhofbauten, die vor über hundert Jahren von der Kolonialverwaltung errichtet worden waren. Ein Indiz dafür ist der Name „Elphinstone Road“ des Prabhadevi-Bahnhofs, benannt nach einem Gouverneur aus dem 19. Jahrhundert. In der ersten Reaktion auf das Unglück schlug die lokale Shiv-Sena-Partei vor, den Namen zu ändern.
Dieser sowie der benachbarte Bahnhof bringen in der Stosszeit 150’000 Pendler zu den Bürotürmen aus Glas und Stahl im Westen der Bahntrasse und nehmen sie am Abend wieder auf. Der neue „Business District“ ist auf den Arealen früherer Textilfabriken in die Höhe geschossen. Die Textilarbeiter hatten im gleichen Quartier gewohnt, während die Landpreise die heutigen Web-Kulis bei ihrer Suche nach tragbaren Mieten in die fernen Vororte vertreiben.
Die immensen Bodenpreise sorgten auch dafür, dass Korruption die Bauvorschriften hinweggefegt hat, die für je ein Drittel der alten Fabrikareale sozialen Wohnungsbau und öffentliche Anlagen reserviert hatten. Statt weiträumig Strassen und Haltestellen für Bustransporte vorzuschreiben, verliess sich die Politik auf die alten Bahnhöfe, deren Fassaden oft noch den Stil schottischer Fachwerkhäuser zeigen, wenn sie nicht hinter Werbewänden und Filmplakaten verschwunden sind.
Das übliche Vorgehen
Die Fussgängerbrücke ist etwa vier Meter breit, verengt sich dann auf den Treppen auf zwei Meter. Bereits 2014 hatte der lokale Parlamentsabgeordnete den Eisenbahnminister in Delhi auf die unhaltbaren Zustände hingewiesen und eine Kapazitätserweiterung gefordert. Der Antwortbrief liess zwei Jahre auf sich warten und war klassisches „bureaucratese“: „Sometimes due to operational constraints and other compelling circumstances agreeing to the request may not be possible.“ Doch er befinde sich „under positive consideration“.
Die Verwaltung der „Western Railways“ nahm – in der Stellungnahme nach dem Unglück vom Freitag – diese Ausflüchte auf und wimmelte ab: Offerteinladungen für eine neue Brücke seien ja bereits (!) erlassen worden; sie würden nun „fast-tracked“.
Es ist das übliche Vorgehen bei jeder Infrastruktur-Entwicklung. Nichts geschieht, bis Menschen das Leben verlieren. Dann wird rasch ein Kredit gesprochen, Pläne werden entstaubt, Aufträge vergeben, und das Loch gestopft. Die öffentliche Entrüstung verebbt, und man kann wieder auf Normalbetrieb schalten. „See you at the next disaster.“
Dabei müsste man gar nicht auf diese warten, denn sie treten täglich ein, nur nicht in der nötigen medienwirksamen Dichte. Die indische Eisenbahn ist eine Dauerkatastrophe. 586 Zugsentgleisungen gab es in den letzten fünf Jahren, mit 386 Toten. Zählt man die Zahl von Menschen dazu, die überfahren werden, aus dem Zug fallen, mit dem Leitungsstrom in Berührung kommen, waren es im Jahr 2016, in Worten, sechsundzwanzigtausendundsechs.
Mumbai hat den zweifelhaften Ruhm, einen erklecklichen Teil dieser 26’006 Opfer für sich zu beanspruchen. 3’202 waren es letztes Jahr, das sind neun Tote pro Tag. Dies gilt notabene nur für den Nahverkehr. Dazu kämen andere Unfälle, Menschen in Ambulanzen etwa, die steckenbleiben wegen dem Verkehr (im Durchschnitt vier pro Tag).
Mumbai Spirit oder Stockholm Syndrom
Die lokalen Medien und Politiker greifen bei solchen Desastern zur einprägsamen Formel: „The Mumbai Spirit“. Sie wollen damit ausdrücken, dass sich der Mumbaikar nicht unterkriegen lässt, durch Strassen mit knietiefem Wasser zum Büro läuft, nach einem Bombenanschlag auf dem nächsten Bahnsteig den Zug nimmt, oder eben am Tag nach der Katastrophe wieder über die Brücke zur Arbeit unterwegs ist.
In Wirklichkeit ist dieser alltägliche Heroismus nichts als ein dumpfes Gemisch von Machtlosigkeit und dem Zwang zum Überleben. Natürlich bricht sich der Ärger Bahn, es kommt zu Zusammenrottungen, die Schlagzeilen kommen in Riesenlettern daher, und Fernsehkommentare ereifern sich bis zur Heiserkeit. Die Politiker üben sich in Empathie und die Verwaltung verspricht Verbesserungen.
In Wahrheit geschieht nichts, und jedermann weiss es. Ein Kommentar im linken News-Portal „Kafila“ sprach von einem kollektiven Stockholm-Syndrom: Eine Bevölkerung in Geiselhaft arrangiert sich mit einem Staat, von dem es täglich im Stich gelassen wird, und in dem sich die Verantwortlichen dank einer schier undurchdringlichen Hierarchie von Funktionen bequem verstecken können.
Indien ist ein schwer beschädigtes System, das unter dem Gewicht einer riesigen Bevölkerung nicht fähig ist, alltägliche Funktionen zu institutionalisieren, von fehlenden Sauerstoffkanistern in Spitälern, über kaputte Strassen – und einer Viertelmillion Strassenverkehrstoten – Stromausfällen bis zu achtzehn Stunden, fehlenden Schultoiletten, dem ewigen Dreck auf den Strassen.
Nicht zur Rechenschaft gezogen
Ist fehlende Verantwortlichkeit der Grund? In der Zeitung „Mint“ wurde kürzlich der Politologe Lance Pritchard zitiert, der von „thick and thin accountability“ spricht. „Dicht“ ist Verantwortlichkeit dort, wo Systeme transparent organisiert sind und hierarchische Stufen nicht mit einer „Verdünnung“ der Verantwortlichkeit einhergehen: Wenn ein Eisenbahnunglück passiert, werden nicht nur die direkt Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Je nach der Schwere des Unglücks muss auch der Eisenbahnminister den Hut nehmen.
In Indien geschieht nichts dergleichen. Demokratie ist gut und recht, aber kein Politiker wird zur Rechenschaft gezogen, wenn seine Wahlversprechen nicht erfüllt werden. Kein Beamter muss um seinen Job bangen, wenn die Feuerwehrschläuche leck sind. Kein Spitaldirektor wird versetzt, wenn er Ambulanzfahrzeuge VIPs zur Verfügung stellt, die rasch ihre Destination erreichen wollen.
Das Land hat ein vorbildliches Bildungsgesetz, aber die Hälfte der Lehrer lässt sich regelmässig krankschreiben. Indien kann schon beim ersten Versuch erfolgreich einen Satelliten zum Mars abschiessen. Aber in 52 Prozent der Klassenzimmer können Fünftklässler nicht Zweitklässler-Aufgaben lösen.
Premierminister Modi geht mit dem guten Beispiel voran. Im Rekordtempo lässt er mehrere tausend „Community Health Centres“ bauen, in Erfüllung eines Wahlversprechens. Doch sie stehen leer, weil keine Betten darin sind, weil in 87 von 100 dieser Zentren die medizinischen Geräte fehlen und weil nur 12 Prozent der Arztposten belegt sind. Wer will sich schon mit dem Bestehenden abmühen, wenn man Neues schaffen kann. Modis Rezept für das marode Bahnwesen: ein japanischer Hochgeschwindigkeitszug zwischen Mumbai und Ahmedabad. Kosten: 15 Milliarden Dollar. Es ist genau der Betrag, mit dem das gesamte Eisenbahnnetz erneuert werden könnte.