Über ihre Ausnahmestellung in der Natur haben Menschen sich immer wieder die Köpfe zerbrochen. Keines der Ergebnisse hat kritischer Prüfung standgehalten. Moderne Verhaltensforschung nähert sich den Tieren mit immer weniger Vorurteilen und immer mehr Respekt.
Es mutet wie ein Treppenwitz an, wenn der Mensch stets wieder ein Alleinstellungsmerkmal des Humanen zu finden sucht und jedes Mal entdeckt, dass irgendeine andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu aufweist: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination, Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung – eine fortgesetzte «Enttäuschung» humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen und arroganten Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren, speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt; aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich. Und warum sollten wir auch?
Im Tier treffen zwei fundamentale Fragen aufeinander, eine ethische und eine erkenntnistheoretische. Erstens: Was rechtfertigt unsere Ausnahmestellung unter anderen Arten, zumal unseren Anspruch der Verfügungsmacht über sie? Diese Problematik ist seit Peter Singers Arbeiten über den Speziesismus allbekannt und gehört heute zum Bausatz «aufgewachter» Moral. Sie hängt entscheidend ab von der zweiten Frage: Was wissen wir eigentlich über die anderen Arten?
Das Tier – eine biologische Transzendenz
Wenig. Karl von Frisch, ein Pionier der Ethologie, bezeichnete das Verhalten von Honigbienen einmal als «magische Quelle»: Je mehr man ihr entnimmt, desto mehr gibt es zu entdecken. Und so verhält es sich wohl allgemein bei den Tieren: Sie übersteigen eine vollständige wissenschaftliche Erklärung – sie sind biologische Transzendenzen. Einer der renommiertesten gegenwärtigen Verhaltensforscher, Frans de Waal, fragte im Titel eines seiner Bücher denn auch geradewegs: «Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are?» ( 2016).
Die Frage steht vordergründig im Widerspruch zu den eindrücklichen Fortschritten der Verhaltensforschung in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren. De Waals Buch und das jüngst erschienene des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Ed Yong, «An Immense World», bezeugen, welches Füllhorn an Entdeckungen uns die gegenwärtige Ethologie bereithält. Dabei gewinnt ein Bild immer deutlicher an Kontur: Das Tier ist kein blosser organischer «Zombie» ohne Innenleben. Seine kognitiven Vermögen sind oft atemberaubend. Und so muss man denn auch de Waals Frage nach der «Smartheit» von uns Menschen deuten: Sind unsere Forschungsmethoden diesem ganzen Spektrum artspezifischer Vermögen überhaupt angepasst?
Anrüchige Tierpsychologie
Mit dieser Frage stechen wir in ein altes Problemnest der Ethologie. In ihrer Frühzeit am Ende des 19. Jahrhunderts hiess sie «Tierpsychologie». Man attestierte also dem Tier eine «Seele», und nicht selten stellte man seine innere Verfassung auf die gleiche Stufe wie jene von Kindern, Primitiven und geistig Gestörten.
Oft erwiesen sich allerdings die vermeintlichen kognitiven Fähigkeiten der Tiere als voreingenommene Projektionen des Forschers. Den wissenschaftlichen Hardlinern unter den Zoologen roch eine solche Art von Tierforschung zu sehr nach unwissenschaftlicher, unobjektiver Vermenschlichung des Tiers, nach «Fabel-und-Märchen-Zoologie». Sie zogen sich deshalb in die sichere Festung der experimentellen Verhaltensforschung zurück. Über die «Seele» des Tiers liess sich in ihren Augen nichts wissenschaftlich Verlässliches aussagen, also wurde sie Anathema. Zoologen, die – wie etwa Adolf Portmann – von der «Innerlichkeit» des Tieres sprachen, nahm man nicht ernst. Das waren halt Philosophen.
Das Tier in seiner Umwelt
Gibt es wirklich keinen Zugang zum Innern des Tiers? Wir alle kennen den Mitmenschen auch durch sein Verhalten: die Art, wie er wohnt, isst, sich kleidet, mit den Leuten umgeht. Wir kennen seine Umwelt. Es war die geniale Idee des Zoologen Jakob von Uexküll vor über hundert Jahren, sich dem Tier auf diese Weise zu nähern. Genauer fragte Uexküll: Was ist die Umwelt des Tiers? Und durch das penible Studium seiner Umwelt finden wir uns immer mehr in das Tier. Was eine Umwelt hat, ist Subjekt seines Verhaltens – also ist alles Subjekt, von der Mikrobe über die Zecke bis zum Philosophen.
Die Reichweite von Uexkülls Idee – einer Art von «kopernikanischer Revolution» im Denken über das Tier – erschliesst sich uns eigentlich erst heute, und sie entfaltet ihre Heuristik umso mehr, als den Ethologen ein ungleich potenteres Instrumentarium zur Verfügung steht in der Gestalt von Kognitionstheorie, evolutionärer Neurobiologie und ausgeklügelten Experimentiermethoden. Die moderne Verhaltensforschung hat sich um das Zentrum des Tiersubjekts mit seinem nicht-menschlichen, artspezifischen Mentalleben herum zu einer faszinierenden Disziplin entwickelt. Deshalb spricht man heute auch von kognitiver Ethologie.
Exzentrisches Lebewesen Mensch
Und trotzdem, das Problem der Anthropozentrik bleibt. Es erscheint unlösbar, weil der Mensch sich nicht von der menschlichen Perspektive lösen kann. Aber ist es nicht das Schicksal jeder Art, dass sie die Welt artenzentrisch wahrnimmt? Der Schimpanse schimpansozentrisch, die Ratte rattozentrisch, die Amöbe amöbozentrisch? Doch das ist die falsche Frage. Tiere kennen das Problem gar nicht. Der Anthropozentrismus ist gerade kein «natürliches» Faktum, sondern eben – menschengemacht. Und der Mensch hat die Fähigkeit – hier stolpern wir unerwartet über ein mögliches Alleinstellungsmerkmal –, sich zumindest von gewissen Zentrismen zu lösen: Er ist ein «exzentrisches» Lebewesen, als das ihn der Philosoph Helmut Plessner charakterisierte. Kopernikus stiess uns aus dem Zentrum des Universums, Darwin aus dem Zentrum der Evolution, Freud aus dem Zentrum des Ich-Bewussteins.
Heute steht eine weitere Dezentrierung an: Der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen mit einem «Geist». Gewiss, Schimpansen schreiben keine Sonette, und Wale komponieren keine Sonaten. Sollten sie das? Die Fähigkeiten, die wir bei anderen Spezies untersuchen, sind ja vom Menschen her definiert. Aber kennen wir Menschen denn all die Subtilitäten etwa der Kommunikation unter Schimpansen und Walen? Wie will man herausfinden, was andere Spezies können, wenn man von dem ausgeht, was sie nicht können? De Waals Sarkasmus ist berechtigt, wenn er von einer Forschung spricht, «die sich mehr an kognitiven Defiziten anderer Spezies begeistert als an ihren Fähigkeiten».
Philosophische Anmassung
Die Anmassung, eine Ausnahme-Spezies auf dem Planeten zu sein, ist eine philosophische. Sie begann damit, dass René Descartes Tiere zu organischen Apparaten, zu «ausgedehnten Sachen» erklärte, über die der Mensch frei verfügen kann, weil er eine «denkende Sache» ist. «Der Grund, weshalb Tiere nicht sprechen wie wir, ist nicht der, dass ihnen die entsprechenden Organe fehlen, sondern dass sie keine Gedanken haben», schreibt Descartes 1646 in einem Brief.
Unsere Verfügungsmacht über die Tiere manifestiert sich heute darin, dass wir nach Schätzungen pro Jahr 100 Milliarden «apparatisierte» Lebewesen für Nahrung, Kleidung, Forschung und andere Zwecke töten. Sie manifestiert sich im sechsten planetarischen Massensterben. Sie manifestiert sich in der Gentechnologie. Diese hat die Schwelle zu einer zweiten Evolution bereits überschritten, in der man Tiere für bestimmte menschliche Zwecke massschneidert.
Ich betreibe hier kein Descartes-Bashing. Mich beschäftigt ein anderes Problem. Die anthropozentrische Erforschung der Natur, der Tierwelt im Besonderen, hat uns in eine gefährlich entfremdete Position abgerückt: Wir studieren alles in der Natur, als ob wir nicht dazu gehörten, als befänden wir uns ausserhalb in einem «Nirgendwo». Und hier liegt eine abgrundtiefe Ironie. Das Bestreben, uns die «Wahnvorstellung» eines Innenlebens der Tiere auszutreiben, hat zu einer anderen Wahnvorstellung geführt, nämlich die unserer Ausnahmeposition in der Natur. Sie hält uns nun schon über 350 Jahre gefangen. Vielleicht meldet sich jetzt in den ökologischen Krisen – die Pandemie zählt dazu – die Nemesis. Oder die Heilung?