Wie war das doch vor zweieinhalb Monaten! Zehntausende jubelten in den Strassen von Caracas. Der selbst ernannte Interimspräsident Juan Guaidó stand auf den Barrikaden und gelobte, das Land aus dem Elend zu führen. Donald Trump versprach einen raschen Sturz von Präsident Nicolás Maduro. Die meisten lateinamerikanischen Staaten und fast ganz Europa scharten sich auf die Seite von Guaidó. Maduros Absetzung schien kurz bevorzustehen. „Bravo Trump“, schrien viele.
Und heute? Maduro ist noch immer da. Die Generäle zeigen keinerlei Anstalten, den Präsidenten fallenzulassen. Und ein Teil der Bevölkerung, wie gross der auch immer sein mag, steht nach wie vor zu ihrem Präsidenten.
„Schwerwiegende Konsequenzen“
Die Kundgebungen haben an Schwung verloren; die Dynamik der Proteste beginnt zu lahmen. Die euphorischen Töne, die einen baldigen Umsturz prophezeiten, sind verhallt.
Und Trump? Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Maduro zu stürzen: Mit pathetischen Worten verkündete er Wirtschaftssanktionen, schloss eine militärische Intervention nicht aus, verfügte diplomatische Sanktionen – und drohte immer wieder mit „schwerwiegenden Konsequenzen“. Jetzt scheint ihm das Pulver ausgegangen zu sein. Vorerst jedenfalls. Der russische Propagandasender „RT“ jubelt schon: „Strategisches Schachmatt für die USA.“
Drohender Gesichtsverlust
Und jetzt? Trump gibt sich als Macher, als unbeugsamer Siegertyp. Doch Siegertypen kennen keine Niederlage. Je länger aber Maduro an der Macht ist, desto mehr leidet das Image des amerikanischen Präsidenten. Schon heisst es da und dort: Wenn Trump nicht einmal fähig ist, den schwer angeschlagenen Maduro aus dem Amt zu jagen, wozu ist er dann fähig?
Trump steht unter Zugzwang. Was soll er gegen den drohenden Gesichtsverlust tun? „Die Strategie gegenüber Venezuela wird jetzt neu definiert“, heisst es im Weissen Haus. Noch mehr Sanktionen, noch mehr Drohungen? Die Optionen gehen langsam aus. Wieder werden Meldungen von einer möglichen Militärintervention gestreut. Eine solche hätte nicht kalkulierbare Konsequenzen. Doch wer um sein Macher-Image kämpft, lässt sich oft zu unüberlegten Handlungen hinreissen.
Zwei Fliegen auf einen Streich
Trump hat sich überschätzt. Und es war nicht einmal seine Idee, Maduro zu stürzen. Der Präsident wurde von Marco Rubio, dem Kuba-stämmigen republikanischen Senator von Florida, eingewickelt. Rubio steht der kubanischen und venezolanischen Diaspora in den USA nahe. Er kämpft für den Sturz des Castro-Regimes, das von der jetzigen venezolanischen Regierung massgebend mit Öllieferungen unterstützt wird. Ein Sturz Maduros wäre für Washington eine doppelte Genugtuung: Der venezolanische „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wäre endlich implodiert – und das Regime in Havanna wäre schwer getroffen.
Die Meldungen über die katastrophale Wirtschaftslage in Venezuela, über die Hungersnot und die fehlenden Medikamente waren ein Steilpass, um zuzuschlagen. Rubio und Trump haben die Gelegenheit genutzt – mit dem Applaus eines grossen Teils der Weltöffentlichkeit. Wer hat nicht gehofft, dass dieses sogenannt sozialistische Regime, das nur Elend verbreitet, endlich gestürzt wird!
Das Geld den Armen vor die Füsse geworfen
Gewisse linksintellektuelle Kreise machen es sich zu einfach, den „imperialistischen Wirtschaftskrieg der USA“ für das Wirtschaftsdesaster im einst reichsten Land Lateinamerikas verantwortlich zu machen. Venezuela geriet nicht wegen amerikanischer Sanktionen in den heutigen Ruin. Hugo Chávez, dieser „grosse Präsident“ (Sahra Wagenknecht), regierte zu einer Zeit (1999 bis 2013) als sich das Land im Ölrausch wälzte. Nie zuvor waren die Ölpreise so hoch. Mit hunderten Milliarden finanzierte er staatliche Sozialprogramme. Er warf das Geld den Armen buchstäblich vor die Füsse. Er subventionierte defizitäre Unternehmen und baute Häuser für die Slumbewohner. So gelang es ihm, die Zahl der Armen zu halbieren.
Gleichzeitig ruinierte er die einst gut geführte staatliche Ölindustrie PDSVA, indem er die Leitung „sozialistischen“, aber unfähigen Gesinnungsgenossen übertrug. Ferner verpasste er es, die Wirtschaft zu diversifizieren. Tausende Betriebe wurden verstaatlicht; viele überlebten nicht.
Das Elend ist hausgemacht
Dann starb er, und dann kam 2013 Nicolás Maduro – und der Ölpreis halbierte sich. Jetzt fehlte das Geld, um die teuren Sozialprogramme weiter zu finanzieren. Wieder wurden Hunderte Betriebe verstaatlicht und von unfähigen Parteigenossen geführt. Jetzt rächte sich, dass die Wirtschaft einzig vom Öl abhing. Die strikte Kontrolle der staatlich festgesetzten tiefen Preise führte zu einer Verknappung des Warenangebots. Das ganze Wirtschaftssystem brach zusammen. Die Inflation liegt über einer Million Prozent.
Der linksintellektuelle Vorwurf, die „Imperialisten“ hätten Venezuela und den „Sozialisten Maduro“ in die Knie gezwungen, ist eine krasse Verdrehung der Tatsachen. Das Elend ist hausgemacht.
Stimulierter Umsturz?
Dass die jetzigen amerikanischen Sanktionen die Situation noch verschlimmern, liegt auf der Hand. Und dass amerikanische Kreise (es muss ja nicht das CIA sein) mit teils subversiven Mitteln „mithelfen“, den Umsturz zu „stimulieren“, ist zumindest nicht ausgeschlossen.
Natürlich ist niemand so naiv zu glauben, Trump kämpfe nur mit altruistischer Absicht und nur für eine Erlösung des venezolanischen Volkes. Trump wäre nicht Trump, wenn er nicht ans venezolanische Öl dächte.
Standhafte Generäle
Doch Trump hat vieles unterschätzt, was nach Meinung vieler zeigt, dass er kein weitblickender Aussenpolitiker ist.
Er glaubte, das Militär würde schnell umfallen. Doch die Generäle und hohen Offiziere werden von Maduro mit reichen Pfründen bedacht. Würde Maduro weggefegt, wäre für viele das komfortable Leben vorbei. Zudem würden manche vor Gericht gestellt. Also hält man am Präsidenten fest.
... auch wenn in Caracas die Lichter ausgehen
Wer geglaubt hat, das ganze Volk stehe plötzlich hinter der Opposition und wolle die Chavisten zum Teufel jagen, sieht sich getäuscht. Ein Teil des Volkes hält nach wie vor zu Maduro. Es sind jene Leute, die von den Sozialprogrammen profitiert hatten. Viele, denen Chávez aus der Armut geholfen hat, sind den Chavisten noch heute dankbar.
Die internationalen Medien zeigten in den vergangenen Wochen vor allem die Demonstrationen der Maduro-Gegner. Dass jene, die zum Präsidenten halten, ebenfalls demonstrierten, auch zu Tausenden, ging fast unter. Noch immer wird Maduro von vielen gestützt – auch wenn in Caracas die Lichter ausgehen.
„Yankee go Home“
Während Jahrzehnten grassierte in Lateinamerika ein Anti-USA-Reflex – nicht von ungefähr. Die USA, mit Hilfe des CIA, mit Söldnern und militärischen Beratern, griffen immer wieder in süd- und zentralamerikanischen Staaten ein – und putschten und mordeten. Die USA betrachteten Lateinamerika über viele Jahre hinweg als ihren Hinterhof, in dem sie sich alles erlaubten.
Die Yankee-go-Home-Stimmung hat allerdings in den letzten Jahren stark abgenommen. Maduro ist es nun gelungen, sie in Venezuela neu zu entfachen und täglich zu bewirtschaften. Schon gibt es Yankee-go-Home-Demonstrationen, so am vergangenen Samstag in Caracas.
Trumps Mauer- und Migrantenpolitik hat alten USA-kritischen Geistern wieder neues Leben eingehaucht, vor allem auch in Mexiko und Zentralamerika.
Putin zündelt
Die Rolle Russlands und Chinas sollte nicht überbewertet werden. Putin liebt es zu zündeln, und so zündelt er jetzt weit entfernt von zu Hause. Sollten aber die USA doch militärisch in Venezuela eingreifen, wird sich Moskau wohl kaum in einen Konflikt hineinziehen lassen. Die Ankunft russischer Flugzeuge mit einigen hundert Soldaten und Hilfsgütern hilft zwar einigen wenigen Venezolanern, hat aber vor allem symbolische Bedeutung. Dennoch kann die russische Präsenz dem amerikanischen Präsidenten nicht behagen.
Den Chinesen geht es nur um wirtschaftliche Beziehungen. Sie haben angedeutet, dass sie sich auch mit einem anderen venezolanischen Machthaber arrangieren könnten.
Juan Guaidó, Vertreter der „Reichen“?
Überschätzt hat Trump wohl auch die Strahlkraft von Juan Guaidó, dem smarten Shootingstar. Er wird von den USA als Retter der Nation, fast schon als Messias, gefeiert. In Venezuela allerdings war er bisher eine kleine Nummer.
Seine Partei, die „Voluntad Popular“ („Volkswille“, VP) besass nur 14 der 167 Parlamentssitze. Im Volk war Guaidó nicht nur beliebt. Vielen gilt er als Vertreter der „Reichen“ und als Marionette der USA, als „Radikaler“. Inhaltlich hat er bisher wenig gesagt, wie er sein Land wieder aufrichten will. Sein einziger Programmpunkt ist: „Maduro muss weg!“ Selbst den Protestslogan hat er sich aus den USA geborgt: „Make Venezuela Great Again“. Belegt ist, dass Guaidó von amerikanischen Stiftungen finanziert wird. Seine Frau Fabiana, „die schönste First Lady“, wie sie venezolanische Zeitungen nennen, wurde von Trump im Weissen Haus empfangen.
Die venezolanische Opposition ist sehr vielschichtig und teils tief zerstritten. Zurzeit schart sie sich – eher widerwillig – hinter Guaidó. Was sie eint, ist ihr Kampf gegen den Machthaber Maduro. Sollte dieser aber dann doch bald einmal stürzen, werden sich die Oppositionsparteien wohl ein wüstes Gerangel um die Macht liefern. Ob dann Guaidó obenauf schwingt, ist keineswegs sicher.
Davon wird unser zweiter Bericht über Venezuela handeln.