Entgegen allen Prognosen stehen sich am 26. Oktober bei der Stichwahl um das höchste Staatsamt in Brasilien nicht zwei Frauen gegenüber. Die Umweltaktivistin Marina Silva, die den Wahlumfragen zufolge als stärkste Herausforderin von Amtsinhaberin Dilma Rousseff galt, erhielt im ersten Wahlgang nur 21 Prozent der Stimmen und landet damit wie vor vier Jahren auf dem dritten Platz. Siegerin der ersten Runde wurde Rousseff mit einem Wähleranteil von gut 41 Prozent. Sie liegt acht Prozentpunkte vor dem konservativen Sozialdemokraten Aécio Neves, der an der Urne weit besser abschnitt, als die Wahlumfragen es erwarten liessen.
Schlammschlacht...
Silva war in der Endphase des Wahlkampfs Zielscheibe einer Hetzkampagne der regierenden Arbeiterpartei (PT) geworden. Weil sie sich wirtschaftsnah gab, für eine unabhängige Zentralbank, einen Haushaltsüberschuss und Geldwertstabilität eintrat, stempelten Rousseffs Wahlhelfer sie als „Kandidatin der Banken“ ab. Ihre politischen Gegner unterstellten ihr, die Sozialprogramme für die Armen kürzen zu wollen. Da half es wenig, dass die ehemalige Kautschukzapferin aus dem Amazonas-Regenwald immer wieder darauf hinwies, dass sie aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen stammt wie Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, und unablässig versicherte, sie werde bei den Sozialleistungen keine Abstriche machen. Vor allem im Nordosten, wo Millionen Haushalte vom sogenannten Familienstipendium leben, verfing die Angst-Propaganda der Regierungspartei. Dort erreichte Rousseff in vielen Bundesstaaten die absolute Mehrheit, während ihre Herausforderin mit grossem Abstand Dritte wurde.
… und Widersprüche
Silva wurde aber nicht bloss das Opfer der politischen Hetzkampagne und der Machtverhältnisse – hier die dominante Regierungspartei mit ihren starken Basen im ganzen Land, dort die kleine Sozialistische Partei ohne Allianzen und verlässliche Strukturen in den Bundesstaaten. Sie scheiterte auch an den eigenen Widersprüchen, die es den Wählern schwer machten abzuschätzen, wo sie politisch genau steht.
Die enagierte Umweltschützerin hat mehrmals die Partei gewechselt. Sie war zunächst Mitglied der Arbeiterpartei und wirkte eine Zeit lang in Lulas Kabinett als Umweltministerin. Weil der Präsident den Umweltanliegen jedoch wenig Beachtung schenkte, trat sie im Zorn zurück und verliess kurz darauf auch die PT. Bei der Präsidentschaftswahl 2011 kandidierte sie für die Grünen und fiel damals ebenfalls als Drittplatzierte in der ersten Runde aus dem Rennen. Diesmal wollte sie mit einer eigenen politischen Gruppierung, dem „Netz der Nachhaltigkeit“, antreten. Weil sie es nicht schaffte, diese rechtzeitig als Partei einzuschreiben, suchte sie Unterschlupf bei den Sozialisten. Diese hatten den Ex-Gouverneur des Bundesstaates Pernambuco, Eduardo Campos, als Präsidentschaftskandidaten nominiert. Doch Campos starb Mitte August bei einem Flugzeugabsturz, und Silva übernahm seine Kandidatur.
Eine gewisse Sprunghaftigkeit zeigt Silva auch in ihren religiösen Überzeugungen. In jungen Jahren war sie eine tiefgläubige Katholikin und spielte sogar mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Heute ist sie jedoch bekennende Anhängerin der Pfingstkirche Assembleia de Deus, die ihren Anhängern eine strenge Ethik abverlangt. Sie selbst schien keine Probleme zu haben, einerseits für sozialistische Ideale einzutreten und andererseits auf konservativen Positionen zu beharren. Vor allem bei jüngeren Wählern dürfte sie damit aber Verwirrung gestiftet haben.
Beide buhlen um die Protestwähler
Silva bleibt jetzt der schwache Trotz, dass ihre Anhänger die Stichwahl entscheiden werden. Sowohl Rousseff als auch Neves werden in den verbleibenden drei Wochen versuchen, möglichst viele von ihnen auf die eigene Seite zu bringen. Da die Stimmen für Silva grossenteils ein Votum gegen Rousseff waren, kann der Sozialdemokrat im entscheidenden zweiten Wahlgang wohl mit einem grösseren Zuwachs rechnen als die Amtsinhaberin. Ob die zusätzlichen Stimmen aber ausreichen werden, um Rousseffs Vorsprung in der ersten Runde wettzumachen, ist ungewiss.
Kommt dazu, dass am Sonntag viele aus Protest Silva gewählt haben. Sie sind der tradtionellen Machteliten und ihrer Skandale überdrüssig und hofften auf grundlegende Veränderungen. Neves gehört jedoch genauso zum politischen Establishment wie Rousseff.
Lula soll es richten
Die Präsidentin, die hauptsächlich in den unteren sozialen Schichten auf einen starken Anhang zählen kann, ist bei der Stichwahl wie seit eh und je auf die Unterstützung ihres politischen Ziehvaters Lula angewiesen. Der charismatische Volkstribun kommt im Unterschied zu seiner spröden Nachfolgerin bei den Massen gut an und ist deshalb ihr bester Wahlhelfer. Auch ihm dürfte es allerdings nicht leicht fallen, die Sorgen weiter Bevölkerungskreise über die stagnierende Wirtschaft zu zerstreuen.
Am Ende der achtjährigen Amtszeit von Lula lag das Wirtschaftswachstum bei 7,5 Prozent, für das laufende Jahr sagen unabhängige Ökonomen ein Plus von höchstens 0,3 Prozent voraus. Die Teuerung, von der die unteren Einkommensschichten besonders hart betroffen ist, stieg auf fast 7 Prozent. Die Unsicherheit wächst von Tag zu Tag und mit ihr die Angst der neuen Mittelschicht vor einem sozialen Abstieg. Rousseff und Lula beteuern immer wieder, dass die Regierung in der nächsten Amtsperiode Versäumnisse nachholen und Fehler ausmerzen werde. Vertreter von Industrie und Handel befürchten jedoch, dass Rousseff auch in Zukunft mit einer dirigistischen Wirtschaftspolitik Investoren abschrecken und zu sehr auf nachfrageorientierte Massnahmen setzen werde.
Hinter Lulas Wahlhilfe für seine Parteikollegin verbirgt sich auch eine Portion Eigennutz. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der ehemalige Gewerkschaftschef in vier Jahren wieder selber um die Gunst der Wähler buhlen möchte.
Für weniger Staat, aber gleiche Sozialleistungen
Wie Rousseff weiss auch Neves einen einflussreichen politischen Mentor hinter sich: Fernando Henrique Cardoso, der zwischen 1995 und 2002 die Geschicke Brasiliens lenkte und den Grundstein für Lulas erfolgreiche Sozialpolitik legte. Cardoso und Neves treten ähnlich wie Silva für eine orthodoxe Wirtschaftspolitik mit weniger Staatsinterventionen ein. Und Neves gelobt ebenfalls hoch und heilig, das Kernstück der brasilianischen Sozialpolitik, die Bolsa Familia, nicht anzutasten.
Bei den Protestwählern dürfte er in erster Linie mit dem Versprechen, er wolle Korruption und Vetternwirtschaft energisch bekämpfen, zu punkten versuchen. Die Arbeiterpartei und auch Regierungspartner von ihr waren in den vergangenen Jahren immer wieder in Schmiergeldskandale verwickelt. Vor gut einem Jahr gingen im ganzen Land Hunderttausende Brasilianer auf die Strasse, um gegen Bestechung, Klientelwesen und Verschwendungssucht der Regierung zu protestieren. Geändert hat sich nichts.
Korruption ist in der brasilianischen Gesellschaft tief verankert. „Wir Brasilianer sind alle korrupt“, sagte der Schriftsteller Luiz Ruffato in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin „Spiegel“. „Ich selbst bin es, jeder hier ist es. Die soziale Struktur führt dazu, und es macht keinen Unterschied, ob es um einen Real geht oder um 100 Millionen... Korruption ist akzeptiert, viele Menschen glauben sogar, es sei gar keine Korruption, wenn man den Staat beklaut. Weil uns der Staat auch beklaut.“
Brasilien krankt daran, dass die politische und wirtschaftliche Elite den Staat gewissermassen zu ihrem Privateigentum gemacht hat. Ob Neves wirklich willens und fähig ist, hier rasch Abhilfe zu schaffen, bezweifeln viele seiner Landsleute.
Tüchtiger Gouverneur und Frauenheld
Der 54-jährige Sozialdemokrat stammt aus einer einflussreichen Politikerfamilie. Sein Grossvater Tancredo Neves wurde 1985 nach dem Ende der Militärdiktatur (1964 bis 1985) zum Präsidenten gewählt, starb jedoch einen Tag, bevor er sein Amt antreten sollte. Enkel Aécio machte Karriere als Abgeordneter im nationalen Parlament und war zwei Amtsperioden Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais. 2011 wurde er in den Senat gewählt und hat dort von allem Anfang an Rousseff und ihre Regierung hart bekämpft.
Mindestens so sehr wie sein politisches Wirken erregte zeitweise sein Gesellschaftsleben Aufsehen. Neves galt als Lebemann und Frauenheld, der von Party zu Party zog und offen zugibt, früher Marihuana geraucht zu haben. Heute lebt er mit dem 20 Jahre jüngeren Ex-Modell Leticia Weber zusammen und hat mit ihr seit dem vergangenen Jahr die Zwillingskinder Julia und Bernardo.
Als Gouverneur gelang es Neves, die Staatsausgaben zu reduzieren, den Verwaltungsapparat zu modernisieren und die Funktionäre im öffentlichen Dienst besser auszubilden. Am Ende seiner Amtsperiode konnte er sich in seinem Bundesstaat einer Rekord-Zustimmung von 92 Prozent rühmen.
Traut ihm jetzt die Mehrheit der brasilianischen Wähler zu, auf nationaler Ebene ähnliche Fortschritte zu erzielen? Neves, der über deutlich mehr Charisma verfügt als Rousseff und bei TV-Auftritten souveräner wirkt als sie, hat in der Stichwahl eine reelle Chance. Nicht unbedingt deshalb, weil viele Landsleute in ihm den grossen Reformer sehen, sondern eher, weil immer mehr Brasilianer finden, zwölf Jahre PT-Herrschaft seien genug.