Dass in der Pekinger Parteizentrale Zhongnanhai die Unruhen in Nahost so genau verfolgt werden, kommt nicht von ungefähr. Der Zusammenbruch der osteuropäischen kommunistischen Staaten 1989 und der Sowjetunion wenig später haben in Chinas Führungselite einen Schock ausgeloest. Das harte, blutige Vorgehen gegen die Studentenproteste auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen im Juni 1989 wurden im Nachhinein auch mit dem Fall des Kommunismus in Europa und Russland begründet. Ähnlich wie jetzt in Ägypten reagierte Peking 1998 beim Fall nach dreissigjähriger Herrschaft von Indonesiens Präsident Suharto.
Besser informierrt als beim Tiananmen-Massacker
Im Jahre 2011 allerdings ist fuer Chinesinnen und Chinesen vor allem im reichen Kuestenguertel Information sehr viel schneller und freier zu haben als 1998. Schiesslich gibt es in China derzeit 850 Millionen Handy- und 480 Millionen Internet-Nutzer. Die Frage drängt sich deshalb auf, ob eine Ausbreitung des Nil-Fiebers vom Nahen in den Fernen Osten und mithin nach China oder Vietnam moeglich sei.
Ein Vergleich der ägyptischen mit der chinesischen Volkswirtschaft zeigt, dass die Ausgangslage gar nicht so verschieden ist. Auch Ägyptens Wirtschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten reformiert und zwar mit Erfolg. Das Wachstum des Brutto-Inlandprodukts (BIP) ist mit etwas über fünf Prozent pro Jahr nicht ganz so brilliant wie jenes von China mit knapp zehn Prozent.
Dennoch ist das BIP per capita in Aegypten mit 5'900 Dollar um einiges höher als das chinesische mit 4'500 Dollar. Wichtiger noch, die Einkommensunterschiede – also die Kluft zwischen Arm und Reich – sind in China verglichen mit Ägypten weit grösser. Was die Inflation und die Arbeitslosigkeit betrifft, ist nach offiziellen Statistiken Ägypten mit über zehn Prozent schlechter dran als China. Allerdings sind die vom Chinesischen Statistischen Amt ausgewiesenen Zahlen von 3,3 Prozent Inflation und 4,3 Prozent Arbeitslosigkeit (2010) nach dem Urteil auch von chinesischen Ökonomen höchst fraglich. Die Inflation – so ein chinesischer Think-Tank – bewege sich derzeit eher in einer Bandbreite von fünf bis acht Prozent, und die Arbeitslosigkeit in den Städten streife die Zehn-Prozent-Marke.
Vietnams Wirtschaft hat sich aehnlich entwickelt wie jene Chinas mit derzeit allerdings deutlich negativeren Indikatoren fuer Inflation und Arbeitslosigkeit . Das Unruhe-Potential in Vietnam mit ueber 80 Millionen Einwohnern ist deshalb deutlich groesser.
Die roten Kaiser hören besser zu
Die Frage, wie stabil China – hinter den USA die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt – derzeit tatsächlich ist, muss neu gestellt werden. Eine „harmonische Gesellschaft“ ist ja die offizielle Parteilinie. Chaos und Stabilität – diese beiden Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch die chinesische Geschichte. Durch Chaos verloren manche Kaiser das Mandat des Himmels, also die Macht. Genau das wollen die roten Kaiser der allmächtigen Kommunistischen Partei natürlich verhindern. Sie tun viel dafür, und hören dem Volk sehr viel besser zu als das Mubarak je getan hat.
Doch falls die Pekinger Fuehrung Inflation und Arbeitslosigkeit nicht in den Griff bekommen sollte, falls die schnell wachsende städtische Mittelklasse, die ueber 150 Millionen Wanderarbeiter und über eine halbe Milliarde Bauern nicht zufrieden gestellt werden können, dann ist die Ansteckung Chinas mit dem Nil-Fieber so wahrscheinlich wie im Winter die Verbreitung der suedchinesischen Schweinegrippe in Europa.