Wie hiess es doch damals: «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!». Das war surrealistisch gedacht und in dieser Hinsicht ein kulturell befreiender Slogan. Darauf aufbauend die Ermunterung, alles in Frage zu stellen, auch das noch so Festgefügte wie «die Alpen».
Die Ausführungen der nicht zu beneidenden Unterhändlerin sind so wiedergegeben worden: Man wolle jetzt vermehrt auf unsere Nachbarländer setzen und deren Interessen an einer weiterhin guten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Schweiz. Wohlverstanden heisst das: Nicht mehr mit der «bösen» EU-Kommission verhandeln, die so sehr auf Prinzipien beharrt, wie wir es in den Nachverhandlungen zum Brexit beobachten konnten. Sondern darauf vertrauen, dass unsere Nachbarländer, die doch auch profitieren würden von den guten wirtschaftlichen Beziehungen zur Schweiz, die EU-Kommission eines Besseren belehren: dass man vonseiten der EU der Schweiz entgegenkommen solle.
Reden wir Klartext: Nach diesem Konzept soll die EU von ihren klar definierten Regeln des Binnenmarktes mit seinen vier Freiheiten abweichen. Sie soll der Schweiz bessere Bedingungen einräumen als ihren eigenen Mitgliedstaaten. Aber das kann sie nicht, ohne sich selber aufzugeben. Genau dasselbe hatten die Britten nach dem Brexit-Entscheid verlangt. Und die EU hatte reagiert mit einem Zusammenrücken der 27 verbliebenen Mitgliedstaaten. Sie haben den Binnenmarkt wie ein Mann oder vielmehr wie eine Frau verteidigt.
Aber mir geht es hier um etwas viel Grundsätzlicheres. Was hat sich die Schweiz hier eigentlich vorgenommen? Nichts anderes als an den Grundfesten der EU zu nagen! Sie macht genau dasselbe wie die Mitwirkenden an der kürzlich unterzeichneten Erklärung von Polens Regierungspartei mit anderen europäischen rechtsgerichteten Parteien, in der sie mehr «Souveränität» für die EU- Mitgliedstaaten fordern und eine Allianz planen.
Die Schweiz macht also jetzt genau dasselbe wie diese EU-Spalter-Parteien. Da kann man nur noch fragen: Ist diese Schweiz eigentlich verrückt geworden? À propos «verrückt»: Man könnte wieder an den Ort zurückkehren, an welchem – sicher in guter und begrüssenswerter Absicht – die nicht beneidenswerte Unterhändlerin zur Medienkonferenz eingeladen hat: Ein Buch mit dem Titel «Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen» erschien 1964 (deutsch 1973) mit dem Untertitel «Bericht einer Heilung». Es ist ein autobiographischer Roman, und die Autorin war selbst mit der Diagnose Schizophrenie in einer Nervenheilanstalt. Der Roman trägt starke autobiographische Züge.
Sind wir nun schon so weit, dass wir die schweizerische Aussenpolitik nur noch mit psychopathologischen Begrifflichkeiten erfassen oder verstehen können? Ich weigere mich, das so zu sehen. Und ich kann dem nur die altbewährte Aufforderung von Immanuel Kant entgegenhalten: Wage es, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!