Seit gut 25 Jahren beobachte und berichte ich über das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan, und ich denke oft: Statt einen Text zu verfassen könnte ich ebenso gut in die Archivkiste greifen und aufs Geratewohl einen Artikel aus, sagen wir, dem Jahr 1993 oder 2004 herausgreifen, und ihn mit dem neuen Datum zu versenden. Es ist immer derselbe deprimierend uniforme Kreislauf von Annäherung und Entfremdung, Provokation und Eskalation, Kältestarre und Tauwetter.
Nur die Namen der Akteure und Parteien ändern. Aber gewisse Dinge bleiben gleich: das Machtmonopol der Armee Pakistans, dessen korrupte politische Klasse, Indiens antimuslimischer Reflex und die Angst vor einem Nuklearstaat nebenan in einer fatalen Verstrickung mit islamischem Terror.
Modi und Sharif, Hand in Hand
Hat sich etwas geändert? Es scheint nicht: Mit Nawaz Sharif hat Pakistan einen Premier, der seine Karriere dem Militärgeheimdienst ISI verdankt; dieser ist weiterhin ein Staat im Staat, der nur den Generälen gehorcht; diese wiederum sehen ihre Raison d’être im lebensbedrohenden Hindu-Popanzen jenseits der Grenze. Dort ist mit Narendra Modi ein ganz böser Bube am Ruder, ein Mann mit dem Traum eines Grossreichs Bharat bis hin zur afghanischen Grenze.
Doch halt – ist dies nicht derselbe Narendra Modi, der vor drei Wochen, am Morgen seiner Rückkehr von einem Staatsbesuch in Afghanistan, plötzlich feststellte, dass es der Geburtstag seines pakistanischen Kollegen ist, und dass er auf dem Heimweg auch dessen Heimatstadt Lahore überfliegen wird, wo zudem die Hochzeit seiner Enkelin ansteht? Gerade noch in Kabul, griff er zum Telefon, richtete Nawaz Sharif die besten Wünsche aus; und fragte, ob er das Brautpaar persönlich beglückwünschen dürfe. Sechs Stunden später schritt Modi in Lahore einen hastig ausgerollten roten Teppich ab, vorbei an einer Ehrengarde in Arbeitsklamotten, Hand in Hand mit Sharif.
Mediales Gedonner
Die Reaktion war rasch, brutal, und vorhersagbar. Keine zehn Tage später griffen Kommandos der Jaish-e-Mohammad die indische Luftwaffenbasis von Pathankot an. Zusammen mit dem Divisions-HQ der Armee nebenan ist sie die am weitesten zur Grenze vorgeschobene Verteidigungsstellung Indiens. In einem konventionellen Krieg, das hatte der vorletzte Waffengang von 1971 gezeigt, ist Pathankot der wichtigste Brückenkopf in der indischen Verteidigung, da dort die Landverbindung nach Kaschmir abgeschnitten werden kann.
Skriptgemäss wie der Fidayin-Angriff der Jaish – einer Kreatur des ISI – verlief die Reaktion Indiens. Dessen Innenminister sprach von einem „untragbaren“ Terrorakt, die elektronischen Medien schäumten, und – nur dies war neu – ein Twittersturm brach los. Die pakistanische Regierung verurteilte wie üblich ‚Terrorakte, wo immer sie ausgeübt werden’. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich angesichts des medialen Gedonners von jenseits der Grenze gezwungen sähe, zu versichern, dass Pakistan nichts damit zu tun habe, zuerst müssten Beweise her. Etc.
Zurückhaltendes Grossmaul
Die einzige Ablenkung bot die Untersuchung des Angriffs, die rasch zu Tage förderte, dass das indische Schutzdispositiv geradezu lächerlich vernachlässigt war, von eingestürzten Grenzzäunen über schlecht funktionierende Lichtanlagen bis zur Erkenntnis, dass trotz der waffenstarrenden Grenze offenbar immer noch altbewährte Schmuggelpfade und –netze existieren, welche die Jaish-Kommandos genutzt hatten. Zudem bot sich dem indischen Publikum das wenig erbauliche Schauspiel, dass es drei Tage dauerte, um das durchgeschlüpfte Häuflein von schlecht ausgebildeten Terrorgesellen auszuschalten. (A propos ‚schlecht ausgebildet’: Einer von ihnen hatte aus dem Areal heraus seiner Mutter in Pakistan telefoniert, die ihn inständig bat, doch nach Hause zu kommen!).
In diesem Getöse ging beinahe unter, dass sich ein Mann still verhielt, von dem man die heftigsten Kanonaden erwartet hatten: Narendra Modi. Erst drei Tage später meldete er sich zu Wort, als er die endlich gesäuberte Air Force Base besuchte. Selbst dann und dort gab er sich ungewöhnlich vage. Dies sei ein Akt gegen die Menschlichkeit, sagte er, und vermied es, die allseits bekannten Hintermänner beim Namen zu nennen. Angesichts der Indizien, die jedem ins Gesicht starrten – der Abschied von der Mutter! – war dies ein bemerkenswerter Akt der Zurückhaltung, gerade bei einem Grossmaul wie Modi.
Siebzigjähriges Zerwürfnis
Auch die Medien merkten auf. „Weiss der Premierminister etwas, was wir nicht wissen?“, fragte der Kolumnist Ajay Shukla. Hatte es vielleicht etwas zu bedeuten, dass Modi bei jedem multilateralen Treffen bemüht war, sich mit Sharif informell zu treffen, und dass er sich danach nie öffentlich darüber äusserte. Auch Sharif nahm das Signal auf. Er ging über die üblichen Wortschablonen hinaus und versprach, „Hand in Hand mit Indien die Drohung des Terrorismus auszurotten“. Zum ersten Mal berief er ein Special Investigation Team ein, das die Untersuchung an die Hand nahm, und mit den indischen Behörden, vor Ort zusammenarbeiten sollte.
Es ist unwahrscheinlich, dass es einen geheimen Friedensplan beider Länder gibt, um einen Schlussstrich unter siebzig Jahre Zerwürfnis, Krieg und Terror zu setzen. Dafür ist das Misstrauen zu gross, namentlich auf der indischen Seite. Sie ist schon öfters in die Falle einer Annäherungspolitik geraten, um eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass die Gegenseite nur auf Zeitgewinn gespielt hatte, um die nächste der ‚eintausend Schnittwunden’ anzubringen, die den Grossen Bruder allmählich ausbluten würden.
Scheidepunkt?
Näherliegend, so meinte Shukla im Business Standard, ist die Annahme, dass Indien zum Schluss gekommen ist, Pakistans Militärs sähe sich an einem Scheidepunkt. Bisher hatten die Generäle immer zwischen ‚guten’ und ‚schlechten’ Terroristen unterschieden: Die Jaish und Lashkar-e-Toiba (und die afghanischen Taliban) sind die guten, die pakistanische TTP-Taliban dagegen sind die schlechten. Mit der IS vor den Toren lässt sich diese nützliche Idiotie nicht mehr länger aufrechterhalten. Die nihilistische Dynamik mit dem Kalbern immer neuer Faktionen und Zellen erlaubt endgültig keine sauberen Grenzziehungen mehr. Der jüngste Beweis kam vergangenen Mittwoch, als die TTP (Fazlullah) in einer Universität unweit von Peshawar ein Blutbad anrichtete – just in einem Augenblick, als man meinte, die TTP-Milizen seien ausgeräuchert.
Das Letzte, das die schwache Zivilregierung in Islamabad in diesem Augenblick brauchen kann, sind laute indische Standpauken, endlich gegen die Frankenstein-Monster in ihren Reihen vorzugehen. Damit reizt man nur die zahlreichen Jihadi-Sympathisanten in den Offiziersrängen, die darauf reflexartig wie auf ein rotes Tuch reagieren; und man verengt den ohnehin winzigen Spieltraum von Nawaz Sharif, dessen Überleben davon abhängt, sich nicht in Aussen- und Verteidigungspolitik zu mischen.
Reissfester Faden
Modi scheint verstanden zu haben, dass er die politische Bewegungsfähigkeit der Regierung Sharif verbreiten muss. Selbst die Armeeführung braucht taktischen Freiraum, um gegen befreundete Organisationen vorzugehen. Und Indiens Reflexhandlung erreicht jeweils das Gegenteil. Denn die Jihadis verbergen sich hinter der islamischen Pflicht der Befreiung Kaschmirs. Und gegen Terroristen im Kotau mit dem Staat bieten hohe Mauerwälle, selbst wenn sie besser bewacht werden als jene in Pathankot, keinen Schutz.
Noch ist der Graben zwischen den beiden riesig, und die Wahrscheinlichkeit einer neuen Negativspirale ist grösser als ein Brückenschlag. Aber sollte es Modi gelingen, nur schon einen reissfesten Faden darüber zu spannen, werden es ihm viele Bürger beider Länder danken, auch jene, die in ihm sonst nur einen Muslimfresser gesehen haben.