Sexualität erweist sich von Natur aus als kompliziert. Medizin und Biologie kennen schon lange Personen, die nicht in die Dichotomie von XY und XX passen – ihre Geschlechtschromosomen sagen das eine, aber ihre Keimdrüsen oder ihre sexuelle Anatomie sagen etwas anderes. Solche Personen haben zum Beispiel sowohl Eierstock- wie Hodengewebe.
Bei einem 70-jährigen Mann wies man eine Gebärmutter nach. Das heisst, es handelt sich hier um sogenannte intersexuelle Merkmale.[1] Sie sind vielleicht nicht die Norm im statistischen Sinn, aber deswegen sind sie nicht unnatürlich.
Die normative Macht des binären Modells
Nun mögen uns Biologen eine nuanciertere Sicht der Sexualität lehren, und ein halbes Jahrhundert Aktivismus der Genderbewegung hat zweifellos zu einer Aufweichung der Haltung gegenüber «anormaler» Sexualität geführt. Aber nach wie vor scheint das binäre Geschlechtsmodell seine normative Macht auszuüben. Das heisst: Die Norm wird als Faktum gesetzt.
Man leihe nur kurz ein Ohr der politischen Debatte. Das Parlament des Kantons Basel-Stadt diskutierte kürzlich über ein Gesetz, das explizit nichtbinäre Personen berücksichtigt. Dagegen argumentierte ein Grossrat, das Gesetz wolle «die Stütze unserer Familie – nämlich die Gemeinschaft von Mann und Frau – auflösen, indem es biologische Fakten leugnet und einen diffusen Genderbegriff einführt (…) Sie können es drehen und wenden, wie Sie es wollen. Gott erschuf Adam und Eva, nicht Adam und Egon (…) Die Auflösung der Geschlechter ist Ausdruck der menschlichen Hybris, die Meinung, wir stünden über der Natur».[2]
Vage Identität
Hybris oder nicht, Gott – er tut einem fast leid – muss immer wieder für schwachbrüstige Argumente herhalten. Die Wissenschaft hat einen schweren Stand gegen tief verwurzelte, zumal religiöse Überzeugungen. Viele Länder stigmatisieren und diskriminieren Abweichungen von der Norm nicht nur, sie kriminalisieren, ja, entmenschlichen sie.
Dagegen schlage ich vor, etwas philosophischer von «vager Identität» zu sprechen. Das würde sie «entgendern» und zugleich auf ein allgemeineres Problem hinweisen. Vage bedeutet nicht «diffus» im Sinne des Basler Politikers, sondern streitbar. Vage bedeutet: Ich lasse mir meine Identität nicht zuschreiben und vorschreiben! Die nichtbinäre Person in diesem verallgemeinerten Sinn steht keineswegs über der Natur, sie lebt einfach ihr Selbstverständnis aktiv, das heisst, sie hinterfragt unbedachte Kategorien, die eine nicht mehr zeitgemässe Verhaltenskonformität stützen. Wenn sie die kategorielle Differenz zwischen Frau und Mann prinzipiell in Zweifel zieht, dann fordert sie ein System heraus, das implizite soziale Kontrolle über den geschlechtsbestimmten Körper ausübt. Die zitierte familiäre Stütze der Gemeinschaft ist eben unter anderem eine Stütze hergebrachter Ordnung, was unter Umständen auch heisst: Nicht-Gleichordnung. Zur Erinnerung: Die vollen Bürgerrechte für die Frau gibt es bei uns in der Schweiz seit 1971.
Daraus erhellt sich sofort die soziale und politische Brisanz der Vagheit, denn Identifizierung bedeutet immer auch Machtausübung durch staatliche Behörden oder andere Institutionen. In der Vagheit steckt ein heimliches subversives Potenzial, ein Widerstand gegen das Gleichmacherische, den wir gerade heutzutage angesichts der immer potenteren Identifizierungs- und Überwachungstechnologien bewahren und pflegen sollten.
Erweiterung der Normalzone
Die meisten von uns verstehen Frau- und Mannsein nach wie vor als Teil unserer Biografie, der Geschichte, wie wir als Kinder sozialisiert, zu Verhaltensweisen erzogen wurden, wie wir unser individuelles Verhältnis zum eigenen Körper erworben haben. Der Zufall und die Umstände spielen in dieser Geschichte immer mit, wie sehr uns das Skript der Chromosomen auch «determinieren» mag. Das ist völlig unkontrovers, normal im traditionellen Sinn.
Und so sollte es auch bleiben. Frau bleibt Frau, Mann bleibt Mann. Nur beginnen wir jetzt vermehrt Menschen wahrzunehmen, die mit ihrer Biografie nicht in den traditionellen Raster passen. Gewiss, jede Erweiterung der Normalzone schafft Probleme. Ob man «Frau» durch «Person mit Gebärmutter» ersetzen soll, ist das geringste. Eine Gesetzgebung diesen neuen Verhältnissen anzupassen dürfte ein härterer Brocken sein. Aber das gehört nun einmal zum Lauf der Dinge. Und mit ihm Schritt zu halten verlangt eine konzeptuelle Lust, neuartige «vage» Formen des Miteinander zu denken, die nicht immer gleich in Diskrimination oder in Grabenkämpfen der Identitätskriege enden. Das hält die Gesellschaft offen und lebendig.
Oder sagen wir es mit dem unvergleichlichen Georg Christoph Lichtenberg, leicht abgewandelt: Man muss zuweilen wieder die Kategorien untersuchen, denn die Welt kann wegrücken und die Kategorien bleiben stehen. Und überhaupt: Wer wirklich denkt, denkt immer schon nichtbinär.
[1] https://www.nature.com/articles/518288a
[2] https://www.bazonline.ch/emotionale-basler-gender-debatte-gott-hat-nicht-adam-und-egon-geschaffen-googeln-sie-mal-923652214637