Soglio! «Das ist der Ort, wo Sie hinmüssten.» Diesen Ratschlag erhielt Rainer Maria Rilke vom deutschen Diplomaten und späteren NS-Widerstandkämpfer Albrecht Graf von Bernstorff. Im Spätsommer 1919 weilte der Dichter im berühmten Bergeller Dorf. Eine Spurensuche.
Der Erste Weltkrieg (1914–1918) hatte «ihn tief verstört und seine Schaffenskraft völlig gelähmt». (1) Gemeint ist der österreichische Schriftsteller Rainer Maria Rilke (1875–1926). Rilke suchte nach dem Grauen des Krieges und den Wirren der Nachkriegsjahre Zuflucht und Geborgenheit abseits des Weltgetümmels. Nach «diesem langen Wesenswinter», wie es der sensible Lyriker ausdrückte, wollte er endlich wieder zur Dichtung zurückfinden und an seinen «Duineser Elegien» weiterarbeiten. Dazu brauchte er einen Klimawechsel. Im Juni 1919 reiste der gesundheitlich angeschlagene Mann für eine Vortragstournee in die Schweiz.
In Zürich lernte Rainer Maria Rilke Nanny Wunderly-Volkart (1878–1962) kennen. Die grosszügige Mäzenin aus dem zürcherischen Meilen unterstützte ihn bis zu seinem Tode. Sie war auch für seine Schweizer Aufenthaltsorte besorgt. Ende Juli 1919 kam Rilke ins Engadin. Von St. Moritz aus reiste er mit der Postkutsche nach Sils-Baselgia. Hier besprach er sich mit der dänischen Übersetzerin seines «Malte Laurids Brigge». Zum Aufenthalt am Silser See zählten auch ein Rundgang über die Halbinsel Chastè und eine ausgedehnte Wanderung «im wunderbaren Fex-Tal». Begeistert berichtete er, wie er dabei «die Klarheit und Stärke der Alpenblumen, dieser herrlichen, reinen, gesteigerten Geschöpfe», kennengelernt habe. Ihn faszinierten die hochgelegenen Matten «mit ihrer Blüten-Fülle und Blütenkraft». (2)
Stilles Refugium
Am 29. Juli 1919 traf Rilke von Promontogno her durch die «unerhört grossen Kastanienwälder (…) im kleinen Bergnest» von Soglio ein. Unterkunft bezog er im majestätischen Palazzo Salis, der damaligen «Pension Willy». Hier «im Bergell, auf den Terrassen, die sich von Maloja gegen Italien zu hinuntersenken, (hoffte er,) jenen Ort zu finden, der mich so anmutet, als wär’s nicht Ziel und nicht Zufall.» (3)
Soglio, dieses malerisch verwinkelte Dorf, war sein «erster Ruhe-Ort», schrieb Rilke. Hier fand er, wonach er sich gesehnt hatte: ein «zur Ruhe-Gekommen-Sein». Dazu gehörte ein Arbeitszimmer, «ein Raum, wo ich auf- und ablaufen kann, (…) aber auch schreien, aber auch weinen. Wo kann man’s noch!» – Wenn möglich sollte es «ein ländliches Haus mit alten Dingen» sein. Das alles traf er im ehrwürdigen Palazzo Salis. Ein Glücksfall für ihn war die private «gräfliche» Bibliothek mit ihren wertvollen Buchbeständen. Sie wurde ihm zugänglich gemacht. Rilke erhielt, was er sich seit Langem gewünscht hatte: einen stillen Arbeitsplatz.
Den verträumt-lauschigen Rosengarten von Soglio kennen viele. Er liegt auf der Rückseite des barocken Palazzo und bildet mit seinen Blumen und Bäumen einen stimmungsvollen Aussenraum. Auch Rilke schätze ihn: «In diesem alten französischen Terrassengarten (…) steht mein Liegestuhl.» Wohl im Schatten der beiden Mammutbäume.
Doch die laute Welt hielt auch hier Einzug. Eine Art Overtourism schon 1919! Dem konnte sich auch Rilke nicht entziehen: «Schade, dass trotz der unbequemen Post- und Wagenverbildung ab und zu ein Touristenschwarm sich über dieser Verzaubertheit blindlings niederlässt», vermerkte er zum «Kommen und Gehen in dem Hause». Doch er tröstete sich: «Dann hat man immer die Zuflucht zu dem altertümlichen Zimmer oder die Wege in die Herrlichkeit des Kastanienwaldes.»
Wie ein Schiffbrüchiger nach der Rettung
Spaziergänge durchs abendliche Soglio gehörten zu Rilkes Ritualen. Die Dorfgässchen sind eng, die Wege gepflastert, die Häuser alle aus Stein gebaut. Davon gibt es ja genug. Der hellgraue Gneis lässt sich leicht behauen, und starke schieferartige Felsplatten decken die Dächer. Die Steinbauten sehen so aus, als wollten sie sich im Sommer gegenseitig Schatten und im Winter Wärme geben. Soglio zählte damals, so Rilke, rund dreissig Häuser.
Der emigrierte Dichter fühlt sich hier den Wirren des Alltags entronnen und geborgen – «wie ein Schiffbrüchiger im Bett nach der Rettung». Doch die dichterische Kreativität war noch nicht errungen. Dennoch fühlte er sich dankbar für diese Zwischenstation. Das Bergeller Bergdorf auf der Sonnenterrasse war für ihn aber «nicht Ziel». Also musste er weiterziehen. Doch liess sich das ersehnte Soglio überhaupt finden?
«Wenn die Zeit gekommen war, trennte (Rilke) sich, begab er sich anderswohin – floh er.» So schreibt sein Biograf, der Historiker und Publizist Jean Rudolf von Salis (1901–1996), über Rilke. (4) Nichts durfte seinem dichterischen Schaffen im Wege stehen. Am 21. September 1919 verliess er Soglio – schweren Herzens. Doch wem wäre der Abschied von Soglio je leichtgefallen? Ja, «wäre der dortige Sommer nur dreimal so lang gewesen!», schrieb er einem Freund.
Es sollte noch eine Weile dauern, ehe sich für Rilke jener Ort fand, der Zufall und doch Ziel war. (5) Vorerst erwartete ihn ein herbstliches Nomadendasein. Erst 1921 fand er seine definitive Zuflucht. Es war der mittelalterliche Wohnturm von Muzot, unweit von Siders gelegen. Ein Gönner ermöglichte ihm dieses »Bleiben-Können». Hier, an dieser «zufällig entdeckten Stelle», vollendete der Dichter seine Hauptwerke, allen voran die «Duineser Elegien».
«So leben wir und nehmen immer Abschied», heisst es im Schlussvers der achten Duineser Elegie. Abschied nehmen musste Rilke im Laufe seines Lebens oft, auch von Soglio. «Soglio, ach Soglio!», so seufzte er einige Monate später. Wie vielleicht manche Gäste dieses berühmten Bergeller Bergdorfes beim Weggang auch. (6)
(1) Urs Bitterli (2009), Jean Rudolf von Salis. Historiker in bewegter Zeit. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 31
(2) Hans-Joachim Barkenings (1994), Nicht Ziel und nicht Zufall. Rainer Maria Rilke in Soglio. Chur: Calanda Verlag, S. 23f.; Barkenings hat in diesem Buch sämtliche Briefe und Dokumente Rilkes aus der Zeit in Soglio zusammengetragen. Rilke schrieb in seinem Leben rund 10‘000 Briefe.
(3) Ebda., S. 17, 31; die folgenden Zitate stammen aus Barkenings’ Publikation.
(4) Jean Rudolf von Salis (1984), Notizen eines Müssiggängers. Zürich: Orell Füssli Verlag, S. 107; vgl. ders. (1979), Rainer Maria Rilke. In: Grenzüberschreitungen. Ein Lebensbericht. Erster Teil. 3. Aufl. Zürich: Orell Füssli Verlag, S. 199–214. Dazu: Jean Rudolf von Salis (1975), Rilkes Schweizer Jahre. Ein Beitrag zur Biographie von Rilkes Spätzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. J. R. von Salis zählt Rilke «als Dichter zu den Grossen der deutschen Literaturgeschichte».
(5) Barkenings, a. a. O., S. 62
(6) Pro Jahr verzeichnet Soglio rund 20’000 Logiernächte.