Russland entwickelt neue atomare Mittelstreckenraketen und bringt sie in Stellung. Aus diesem Grund haben die USA und später auch Russland den INF-Vertrag gekündigt. Sollen jetzt neue atomare Raketen im Westen aufgebaut werden? Müssen sich die baltischen Staaten nach der Krim-Annexion vor einem russischen Angriff fürchten? Wie stark ist Russland wirklich? Kann die Nato ihre Einheit bewahren? Mit Andreas Wenger sprach Heiner Hug.
Herr Professor Wenger, welche Auswirkungen hat die Kündigung des INF-Vertrags für die Sicherheit Europas?
Andreas Wenger: Die Auswirkungen auf das militärische Gleichgewicht in Europa sind begrenzt. Man sollte sicher nicht überreagieren.
Also sollte der Westen keine neuen Atomwaffen in Europa stationieren?
Nein. Aus Sicht der Nato ist Russland mehr eine politische Herausforderung als eine militärische Bedrohung. Die Kündigung des INF-Vertrags wird den Rüstungswettlauf in Europa kaum beschleunigen.
Das heisst, der Vertrag hatte ohnehin keine Bedeutung mehr?
Der INF-Vertrag ist ein Kind des Kalten Krieges. Es ging darum, den Rüstungswettlauf in Europa zu stabilisieren. Die Sowjetunion hatte hochmoderne Mittelstreckenraketen stationiert, die vor allem Westeuropa bedrohten. Darauf reagierte die Nato. Sie drohte Moskau: Entweder ihr rüstet ab oder wir stationieren in Westeuropa hochmoderne Pershing-2-Raketen. Das führte zum INF-Vertrag, in dem sich die Sowjetunion und die USA verpflichten, ihre landgestützten Mittelstreckenraketen zu vernichten. Heute haben wir ein völlig anderes Umfeld als damals, als der INF-Vertrag ausgehandelt wurde.
Inwiefern?
Viele denken immer noch in Szenarien des Kalten Krieges: Nato gegen Warschauer Pakt. Es ist schwierig, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es nicht mehr darum geht. Heute haben wir keine Bipolarität mehr. Es stehen sich nicht mehr wie früher zwei Supermächte gegenüber. Heute haben wir eine Multipolarität. Die ganze Debatte, die jetzt nach der Kündigung des INF-Vertrags geführt wird, muss in diesem globalen, multipolaren Zusammenhang gesehen werden.
Wieso hat Moskau landgestützte Mittelstreckenraketen entwickelt und stationiert und damit gegen den INF-Vertrag verstossen?
Russland sieht seine militärischen Möglichkeiten nicht nur in einem europäischen sondern zunehmend auch in einem asiatischen Kontext. Vor allem China hat stark aufgerüstet. Russische Generäle sagen, es gibt 30 Länder, die vergleichbare militärische Kapazitäten entwickelt haben. Viele von ihnen befinden sich an der russischen Südgrenze.
Russland hat übrigens zweimal, 2005 und 2007, die USA angefragt, ob man den INF-Vertrag nicht gemeinsam auflösen könne. Moskau hat Interesse daran, im asiatisch-pazifischen Raum und im Süden Russlands freie Hand zu haben und neue Systeme, neue Marschflugkörper, zu installieren. Washington hat abgelehnt.
Sind landgestützte Mittelstreckenraketen für Russland wichtiger als für die USA?
Ja, im Gegensatz zu den USA ist Russland eine klassische Landmacht. Die USA sind auch eine Seemacht. Deshalb sind für Moskau bodengestützte Mittelstrecken-Marschflugkörper, die sowohl konventionell als auch atomar bestückt werden können, sehr wichtig, weil sie flexibel und mobil einsatzfähig sind. Sie können gegen verschiedene mögliche Bedrohungen eingesetzt werden.
Wie stark ist heute Russland?
Russland ist keine globale Militärmacht mehr. Moskau weiss, dass der Westen das auch weiss. Russland ist sich bewusst, dass es nicht mehr global mit den USA konkurrieren kann. Russland weiss auch, dass es nur noch eine regionale Militärmacht in Eurasien ist; es ist nicht mehr der zweite globale Pol wie während des Kalten Krieges.
Die Überlegenheit der USA ist schon ersichtlich, wenn man die beiden Verteidigungsbudgets vergleicht. Die USA stecken zehn Mal mehr Geld in die Verteidigung und in die Rüstung als Russland. Das amerikanische Verteidigungsbudget beträgt 640 Milliarden Dollar, jenes von Russland 63 Milliarden. Selbst wenn man das russische Budget mit den europäischen militärischen Aufwendungen vergleicht, fällt Russland ab. Grossbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen wenden für Verteidigung und Rüstung insgesamt 150 Milliarden Dollar auf – also mehr als doppelt so viel wie Russland.
Auch bei der militärischen und technologischen Innovationsfähigkeit fällt Russland zurück. Bei der künstlichen Intelligenz kann Russland weder mit den USA noch mit China gleichziehen. Diese Nachteile will Moskau mit der Modernisierung nuklearer Systeme kompensieren.
Die sowjetische Armee lag ja nach dem Ende der Sowjetunion am Boden. Hat sie seither nicht wieder grosse Fortschritte gemacht?
Die alte sowjetische Armee war noch auf einen globalen Konflikt ausgerichtet. Nach dem Ende des Kalten Krieges zerfiel die sowjetische Armee, technologisch und personell. Russland hätte sich bei einem westlichen Angriff nicht verteidigen können, doch niemand wollte Russland angreifen. Man diskutierte sogar über eine Integration Russlands in der Nato.
Nach dem Georgienkrieg 2008 führte Putin eine Militärreform durch. Sie brachte dem Land wieder ein glaubhaftes Abschreckungssystem. Putin polte die Armee um und richtete sie neu auf die Bewältigung regionaler Konflikte aus – Konflikte, die vor allem im postsowjetischen Raum an der russischen Peripherie ausbrechen könnten. Das bedeutete: leichtere Truppen, mobilere Truppen, die man rasch verlegen kann. Die gesamte Kommandostruktur wurde umgestellt. Jetzt ist Russland wieder eine ernstzunehmende Regionalmacht.
Doch Russland bleibt der Nato gegenüber konventionell weit unterlegen. Und wenn man konventionell unterlegen ist und der Westen auch noch an Raketenabwehrsystemen arbeitet, bleiben zum Selbstschutz eigentlich nur Nuklearwaffen. Da sind wir bei den Marschflugkörpern, die nur schwer abzufangen sind. Solche offensive Systeme, die auch nuklear bestückt werden können, sind entscheidend für die russische strategische Abschreckung.
Wie kommt es, dass die öffentliche Meinung glaubt, Russland sei ebenso stark wie der Westen?
Ja, wenn man heute zehn Leute fragt, wie stark sind die USA und wie stark ist Russland, so sagen neun von zehn: beide sind etwa gleich stark. Da wirkt eben der russische Informations- und Propagandakrieg. Natürlich haben die Russen einige Waffensysteme, die gleich gut oder sogar besser als die westlichen sind. Doch betrachtet man die gesamte Stärke, die Ressourcen und die Durchhaltefähigkeit, so fällt Russland ab und kann in keiner Weise mit den militärischen Möglichkeiten der USA mithalten.
Aber Russland bleibt ja auch deshalb nicht ungefährlich, weil es über ein grosses Potential an Interkontinentalraketen verfügt.
Mit ihren Interkontinentalraketen schrecken sich die USA und Russland gegenseitig ab. Da herrscht ein Gleichgewicht, das berühmte „Gleichgewicht des Schreckens“. Jede Macht weiss, wenn die andere Macht angreift, wird sie selbst angegriffen. Dieses strategische Gleichgewicht ist im „New Start-Vertrag“ geregelt. Die Abschreckung mit Langstreckenraketen funktioniert, und zwar so, dass sie die gegenwärtige Debatte über Mittelstreckenraketen (noch) nicht tangiert.
Der New-Start-Vertrag läuft in zwei, drei Jahren aus und muss dann neu verhandelt werden. Besteht nicht die Gefahr, dass nach dem INF-Abkommen auch der New-Start-Vertrag gekündigt wird?
Wenn sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland verschlechtern, könnte der New-Start-Vertrag gefährdet sein. Das wäre dann wesentlich schwerwiegender als die Folgen der Annullierung des INF-Abkommens. Im Moment besteht ein gegenseitiges Interesse, das Gleichgewicht des Schreckens so aufrechtzuerhalten, wie es ist. Nicht einschätzen kann man heute den Trump-Faktor. Wie wird sich der amerikanische Präsident, falls er dann noch im Weissen Haus sitzt, verhalten, wenn es um die Neuverhandlung des New-Start-Abkommens geht?
Sollte man nach der Annullierung des INF-Abkommens versuchen, Russland in ein neues Rüstungsabkommen einzubeziehen, eventuell mit China zusammen?
Da bin ich sehr skeptisch. Vor allem auch, weil alle drei Mächte verschiedene ungleiche Waffenkategorien und verschiedene militärische Stärken haben. Wir haben eine globale Supermacht, die USA, und wir haben zwei regionale Militärmächte, Russland und China. Wie will man diese asymmetrischen Waffensysteme, diese Äpfel und Birnen, unter einen Hut, in ein und dasselbe Rüstungsabkommen packen?
Die USA können mit ihren konventionellen Waffen in einer Stunde jeden Ort auf der Welt angreifen. Aufgrund dieser konventionellen Überlegenheit wird Russland nicht auf seine nuklearen Waffen verzichten wollen. Russland und China wollen als regionale Militärmächte mit ihren Marschflugkörpern und anderen weitreichenden Mitteln einen gewissen Einfluss in ihrem regionalen Umfeld behalten.
Es ist unwahrscheinlich, dass in Russland oder China ein ernsthaftes Interesse an einem Rüstungsvertrag besteht. Für Moskau gilt es, das zu schützen, was noch zu schützen ist. China hingegen wird sein militärisches Machpotential langfristig ausbauen und dürfte damit über kurz oder lang zum dominanten militärischen Herausforderer der USA werden.
Putin liebt es ja, den bösen Mann zu spielen.
Putin baut bewusst Spannungen mit dem Westen auf. Das wertet ihn international, aber auch national auf. Er braucht das, um sich innenpolitisch stabilisieren zu können.
Putin hat 2014 die Krim annektiert. Die baltischen Staaten fürchten sich, dass ihnen ähnliches geschehen könnte. Wie sehen Sie das?
Der Vergleich zwischen der Ukraine und den baltischen Staaten ist falsch. Die Ukraine ist nicht Mitglied der Nato und hat keinen Anspruch darauf, dass sie von der Nato verteidigt wird – im Gegensatz zu den Nato-Mitgliedern Estland, Lettland und Litauen.
Malen wir den Teufel an die Wand. Was geschähe, wenn Russland einen baltischen Staat angreifen würde?
Russland unterscheidet ganz klar zwischen Nato-Staaten und Nicht-Nato-Staaten. Moskau weiss, es gibt im Nordatlantikvertrag den Artikel 5. Der besagt, dass wenn ein Nato-Land angegriffen wird, die andern Nato-Staaten schützend eingreifen. Wenn russische Soldaten das Baltikum angreifen, greifen sie ja auch die dort stationierten amerikanischen, kanadischen, britischen und deutschen Soldaten an. Das könnte zu einer Eskalation führen, die Putin kaum will.
Kann die Nato ihre Einheit bewahren?
Das ist das Kernproblem. Russland zielt ja mit Propaganda und Informationskriegsführung darauf ab, die Nato zu spalten. Wenn man die Ukraine-Krise anschaut, würde ich sagen: die Kohäsion der Nato ist überraschend gut gewesen. Man hat sich nach der Annexion der Krim schnell zu Sanktionen durchgerungen. Das hätte man so nicht unbedingt erwartet. Man hat das Abschreckungs- und Verteidigungssystem der Nato schnell angepasst. Amerikanische Soldaten wurden in Polen mit teils schweren Waffen stationiert. In die baltischen Staaten wurden deutsche, kanadische und britische Bataillone verlegt.
Trump sagt es immer wieder. Er hält wenig von der Nato.
Wie auch immer: Wenn man es nüchtern betrachtet, müssten die USA auch in Zukunft Interesse an der Nato und an Alliierten haben. Einer der grossen Vorteile für die USA ist, dass sie, auch dank der Nato, über ein weitverzweigtes Allianzsystem verfügen. Russland und China hingegen sind weitgehend isoliert. Mit Allianzen kann man Einfluss gewinnen, doch Allianzen müssen auch gepflegt werden. Das ist die politische Seite. Militärisch müssen sich die USA die Frage stellen: Wie können wir Zugang zur eurasischen Landmasse haben? Da kann man Westeuropa als grossen Flugzeugträger betrachten.
Das russische Engagement in Syrien zeigt, dass Moskau doch noch über militärische Expansionsfähigkeiten verfügt.
Man kann das so sehen. Doch Syrien ist ein spezieller Fall, weil dort ein Vakuum bestand. Mit einem militärisch begrenzten Aufwand konnte Russland Asad im Spiel halten – auch deshalb, weil die USA nicht agierten und die Regionalmächte sich blockierten. Damit ist Russland als Grossmacht zurück. Putin hat geschickt eine Schwäche des Westens ausgenützt und hat sich in eine wichtige Position hineinmanövriert. Ohne Putin gibt es jetzt in Syrien keinen Frieden und keine Stabilisierung. Das ist die politische Seite.
Militärisch sieht es anders aus. Als die Türkei ein russisches Flugzeug abschoss, drohte eine Eskalation. Putin reagierte ausserordentlich vorsichtig. Er weiss, dass die militärischen Fähigkeiten Russlands begrenzt sind. Zudem kann er sich aus innenpolitischen Gründen nicht erlauben, Särge nach Hause zu bringen.
Vielleicht sollte man dennoch Russland nicht unterschätzen.
Nein, Russland hat immer noch strategische Ressourcen. Das Land ist gross, es ist in Eurasien eine Militärmacht, es ist eine Nuklearmacht, es hat einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Mit diesen Elementen kann man sich viel Einfluss an Verhandlungstischen erzwingen. Putin gelingt es immer wieder, diesen Einfluss punktuell und provokativ, auch mit Nadelstichen, einzusetzen. Das ergibt ein Bild, das den wirklichen russischen Einfluss viel grösser macht, als er in Wirklichkeit ist.
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Das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich ist ein Kopetenzzentrum für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik. Es bietet sicherheitspolitische Expertise in Forschung, Lehre und Beratung. Das CSS verbindet Forschung mit Politikberatung und bildet so eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Seit 2002 leitet Prof. Dr. Andreas Wenger das CSS, das zum Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften (D-GESS) der ETH Zürich gehört und 1986 von Prof. Dr. Kurt Spillmann gegründet worden war. Zusammen mit den politikwissenschaftlichen Professuren der ETH Zürich und der Universität Zürich bildet es das Center for Comparative and International Studies (CIS).