Wir schreiben den 8. Februar, ich gehe, das ist journalistische Routine, die Schlagzeilen, dann auch die Inhalte europäischer Medien zum Thema «Russlands Krieg gegen die Ukraine» durch. Ich blättere noch um ein paar Tage retour, und finde, wie schon in den letzten zwei, drei Wochen eine überwältigende Menge von Beiträgen, die sich mit der Solidarität oder Nicht-Solidarität Deutschlands mit der Regierung in Kiew befassen.
Olaf Scholz bekommt Schelte – es gibt, Sprachgrenzen überschreitend, ja schon einen Ausdruck für die Grundhaltung des deutschen Bundeskanzlers: «Scholzing». Der Brite Timothy Garton Ash habe ihn erfunden, lese ich da und dort – doch der Journalist selbst stellte das nun richtig: Seines Wissens haben ukrainische Medien den Begriff als Erste verwendet, der «Erfinder» sei namentlich unbekannt. Aber weil Timothy Garton Ashs Artikel, meistens zuerst im britischen «Guardian» veröffentlicht, Grenzen und Sprachbarrieren überschreiten, dürfte er weiterhin, wenn auch zu Unrecht, als Schöpfer des einprägsamen Begriffs zitiert werden.
Besonders in Polen, Litauen, einigen Publikationen in Deutschland und auch in der Schweiz feiert „Scholzing“, salopp gesagt, fröhlich-bösartige Urständ. Einige Kommentatoren gehen so weit, Olaf Scholz als verantwortlich zu erklären für zig-tausende Tote in der Ukraine – weil er schuld sei, dass die Panzer zu spät geliefert würden.
Waffenlieferungen?
Allerdings: Bis zu diesem 8. Februar haben nicht mehr als fünf Länder tatsächlich Zusagen für die Lieferung von Kampf-Panzern an die Ukraine gemacht, nämlich Deutschland, Polen, Portugal und Kanada. Und Grossbritannien hat die Lieferung von rund 40 Challenger-Panzern zugesagt. Was ist mit Frankreich, Spanien, Italien, den USA? Ob die US-amerikanischen Panzer je in die Ukraine gelangen, ist offen – die Biden-Administration sagt, das Waffensystem sei eigentlich zu kompliziert für die ukrainischen Soldaten, sie überlege sich aber dennoch eine Lieferung. Vielleicht stimmt das, vielleicht aber bremsen die USA aus anderen, politischen Gründen. So umfangreich und grosszügig die US-amerikanische Waffenhilfe für die Ukraine bisher war – sie war immer so konzipiert, dass die gelieferten Systeme nicht (oder kaum) grenzüberschreitend eingesetzt werden konnten. Dass sie also keine Bedrohung für das Territorium Russlands waren, sondern der Defensive der Ukraine dienten. Amerikanische Abrams-Panzer im Einsatz gegen die russischen Aggressoren würden (oder werden) das ändern.
8. Februar: nochmals ein Datums-bezogener Fakten-Check. Bis zu diesem Tag sieht die Reihenfolge der Waffen- und Munitionslieferanten an die Ukraine so aus: USA an erster Stelle, Grossbritannien an zweiter, Deutschland bereits an dritter. Aber «Scholzing» bleibt «in», als Brandmarkung einer angeblich besonders deutschen Grundhaltung, die das Ziel verfolgt, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Warum wurde Olaf Scholz zum «Watschenmann»? Dass die oppositionelle CDU/CSU ihn kritisiert und verbal attackiert, ist aufgrund der Parteienkonkurrenz nachvollziehbar. Dass die Regierung der Ukraine auf schnelle Panzer-Lieferungen (nun auch schon auf die Lieferung von Kampf-Jets) drängt, ist ebenfalls verständlich. Auch das Scholz-Bashing in Litauen und Polen ist insofern nachvollziehbar, als die Regierungen dieser Länder sich risikobereiter als Deutschland für die Ukraine engagieren. Und für Medien, die möglichst «süffig» erscheinen möchten, eignet sich die nüchterne Figur von Olaf Scholz ja wirklich gut als «Watschenmann», als angeblich farblose Reizfigur, die sich dem Drängen der medial beeinflussten Öffentlichkeit nach Schlagzeilen-Lieferung bei der Panzer-Debatte auf fast schon provokativ eigenständige Weise entziehe.
Nestwärme der Neutralität
Alles insofern verständlich, als sich die Kritik in den Ländern abspielt, die sich hinsichtlich Waffen für die Ukraine weiter vorwagen als Deutschland. Doch dass die «Scholzing»-Debatte auch in den schweizerischen Medien förmlich grassiert, ist befremdlich. Denn die grössten Bremser betreffend Waffen und Munition für die Ukraine sind wir. Klar, wir haben ein anderes Verständnis von Neutralität als etwa Schweden oder Finnland, wir können uns dieses andere Verständnis aus geografischen Gründen wohl auch (noch) leisten. Eine gründliche Debatte über Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik ist längst fällig. Aber sie findet ja, Wort-Getöse hin oder her, nur an einigen Randzonen des politischen Spektrums statt. Jedes andere Land würde in dieser Situation ein Brainstorming im Parlament durchführen und die Regierung dazu auffordern, Klartext zu sprechen. Nicht so in der Schweiz, das Thema bleibt Domäne von Kommissionen und Gegenstand bilateraler Gespräche zwischen einigen Politikerinnen/Politikern. Kein Wort aus dem Bundesrats-Gremium.
Das Newsportal «Watson» vermerkte: «Die Querelen zeigen einmal mehr, welche Herausforderungen der Ukraine-Krieg für die Schweizer Politik darstellt, die es sich lange in der Nestwärme der Neutralität bequem gemacht hat.» Der Kommentar mündet in der Feststellung, dass grünes Licht für die Lieferung von in der Schweiz eingemotteten Leopard-Panzern (davon hat die Schweiz mehr als einhundert, also fast so viele wie das zehnmal grössere Deutschland) oder bereits an Deutschland gelieferter Munition für den Gepard-Panzer die Hürden einer Gesetzesrevision überspringen müsste, und schliesst mit dem Satz: «Waffen und Munition für die Ukraine gäbe es wohl erst nächstes Jahr.» Das kann man ergänzen mit der Vermutung: Offen über das dornige Thema diskutieren wollen die meisten politischen Kräfte der Schweiz erst nach den nächsten Wahlen. Das wäre also frühestens im Spätherbst. Wenn überhaupt …
Schlussfolgerung: Es gibt offenkundig nicht nur «Scholzing», sondern auch noch eine krassere, schweizerische Version von zögerlicher Haltung. Wie sollen wir sie nennen?