Sie will festhalten, was es vielleicht bald nicht mehr gibt. Der schiefe Turm von Bologna, schiefer als der schiefe Turm von Pisa, ist zu einer Attraktion für Touristen und Menschen aus Süd- und Norditalien geworden. Und: Er ist ein Wirtschaftsmotor. Die Geschäfte rund um den Turm florieren.
Er wird fotografiert und gefilmt. Eine Schülerin steht mit einem Zeichnungsblock an der Ecke und zeichnet ihn. Touristengruppen drängen sich. Pro Stunde wird er «sicher hundert Mal» fotografiert, sagt uns ein Polizist, der dort Wache tut.
Der 48 Meter hohe Garisenda-Turm steht im Zentrum von Bologna. Er hat eine Neigung von 3,20 Metern. Das sind knapp vier Grad. Der Schiefe Turm von Pisa weist eine Neigung von nur 3,97 Grad auf. Der «Torre della Garisenda» wurde im Jahr 1109 von einer ghibellinischen Familie gebaut, die durch Geldwechsel reich geworden war. Schon früh geriet er in Schieflage.
Seit dem Ende der Bauarbeiten vor 900 Jahren begann sich der Boden zu senken. Der Turm war früher 60 Meter hoch. Da er sich zu neigen begann, wurde er im 14. Jahrhundert auf die heutigen 48 Meter zurückgebaut.
Jetzt ist der Garisenda einsturzgefährdet. Die Stadtverwaltung von Bologna bezeichnete die Situation als «hochgradig kritisch». Die Experten, die den Turm beobachten, schlagen Alarm.
Bisher neigte sich der Garisenda-Turm Richtung Osten. Jetzt aber stellten Sensoren, die an den vier Ecken des Turms angebracht sind, plötzlich eine Neigung Richtung Südwesten fest. Zudem wurden anomale Schwingungen beobachtet. Bereits gibt es Evakuierungspläne für Leute, die in einem Radius von hundert Metern rund um den Turm leben und arbeiten. Dem Turm selbst wurde ein Eisenkorsett verpasst.
Direkt neben dem Garisenda-Turm steht der fast 100 Meter hohe «Torre degli Asinelli». Auch er befindet sich nicht in Hochform. Während der Garisenda-Turm «gekürzt» wurde, hat man im Mittelalter den ursprünglich 60 Meter hohen Asinelli-Turm auf 97,2 Meter erhöht. Auch er steht nicht stramm gerade; er weist eine Neigung von 2,20 Meter auf. Im 14. Jahrhundert diente er als Kerker. Blitzschläge und Brände haben ihm arg zugesetzt.
Rund um die beiden Türme wurde vor knapp zwei Jahren eine fünf Meter hohe Abschrankung aufgebaut. So sollen Passanten von eventuell herunterfallenden Steinen oder gar dem totalen Einsturz des Turms geschützt werden. Beide Türme sind für Besucher und Besucherinnen geschlossen worden.
Ein Schreckensszenario wäre, dass die einstürzenden Gesteinsmassen des Garisenda-Turms den danebenstehenden Asinelli-Turm treffen würden – und auch ihn zum Einsturz brächten.
In Bologna, wie in anderen italienischen Städten, wollten die reichen Familien im Mittelalter demonstrieren, wie wichtig und einflussreich sie sind. Sie bauten möglichst hohe «Geschlechtertürme», um die anderen Familien zu übertrumpfen. Vermutlich zählte Bologna im Mittelalter etwa 180 solche Türme. Die meisten von ihnen gibt es nicht mehr. Und viele der wenigen, die es noch gibt, stehen nicht ganz kerzengerade.
Der Garisenda- und der Asinelli-Turm sind zum Symbol der Stadt Bologna geworden. Selbst Dante hatte sie in der «Göttlichen Komödie» beschrieben. Die beiden Türme sind vielen in Bologna ans Herz gewachsen, sagt der Bürgermeister. «Es gibt eine eigentliche Liebesbeziehung zwischen der Bevölkerung und den Türmen.»
Die Stadt hatte die Bewohnerinnen und Bewohner deshalb zu Spenden aufgerufen, um den Garisenda-Turm zu retten. Durch das Fundraising kamen bisher vier Millionen Euro zusammen. Unter den Spendern befinden sich lokale Unternehmen, Geschäfte und viele Private.
Im letzten Herbst wurde der Verkehr rund um die Türme stark eingeschränkt, denn man befürchtete, dass die Erschütterungen, die vor allem der Schwerverkehr und die Busse verursachen, die Bildung von Rissen im Fundament beschleunigen. Viele machen den Verkehr dafür verantwortlich, dass sich der Garisenda schneller neigt als früher. Die Verkehrsbeschränkungen sollen vorerst bis Ende Oktober gelten, werden aber vermutlich verlängert.
Um die Senkung des Bodens aufzuhalten, wurden jetzt vor dem Turm riesige Container mit tonnenschwerem Material parkiert. Sie sollen, «hebelgesetzmässig» dem schiefen Boden Gegensteuer geben, ihn wieder aufrichten oder zumindest stabilisieren.
Da die Türme, einst ein Touristenmagnet, jetzt gesperrt sind, fürchteten Ladenbesitzer wirtschaftliche Einbussen. Viele rechneten damit, dass «die Gegend ausstirbt», wie eine Souvenirverkäuferin sagte.
Das Gegenteil trat ein. Der schiefe Turm ist zu einer Attraktion geworden und zieht Touristen, aber auch Italienerinnen und Italiener aus dem ganzen Land an. Viele wollen noch ein Bild schiessen und schlendern um die Türme und zu den nahen Geschäften. Amerikaner sind da, Spanier, Südkoreaner. Eine Boutique-Besitzerin nahe des Turms sagt, ihr Umsatz sei um 20 Prozent gestiegen. Andere Geschäftsinhaber rechnen mit einer Umsatzsteigerung von bis zu 30 Prozent. Die zwei Boulevard-Bistrots vis-à-vis des Turms sind bis auf den letzten Tisch besetzt. «Wir hatten noch nie so viele Gäste wie jetzt», sagt ein Kellner eines nahen Cafés. Auch die nahe Feltrinelli-Buchhandlung ist mit dem Geschäftsgang «sehr zufrieden».
Ein einsturzgefährdeter Turm ist offenbar attraktiver als ein kerzengerade stehender.