Im Norden Südamerikas, irgendwo im Dschungel, liegt ein See. In seinen Tiefen schlummert ein gigantischer Goldschatz. Tausende Europäer hatten sich auf die Suche nach dem See gemacht. Die meisten sind dabei umgekommen.
Wo der «Parime»-See genau liegt, ist unklar. 1587 tauchte er erstmals auf einer Karte des flämischen Kartografen Jodocus Hondius auf. Demnach liegt er im südwestlichen Guyana. Am nordöstlichen Ufer befindet sich die «goldene Stadt» Manoa.
Die Legende um den Parime-See legte die Grundlage für den «Eldorado»-Rausch: die Suche nach dem verklärten Goldland, das Abenteurer und Forscher entweder in Kolumbien, Venezuela, Guyana, im nördlichen Brasilien oder in Ecuador vermuteten. Die Expeditionen ins vermeintliche Goldland endeten für die meisten Teilnehmer tödlich; sie starben an Gelbfieber, Erschöpfung, Krankheiten, Hunger, bei Kämpfen mit Eingeborenen oder bei Streitereien unter sich.
«Königreich Eldorado»
Antonio de Berrios, Gouverneur von Trinidad, war es vermutlich, der die Geschichte des Parime-Sees in Umlauf brachte. Er hatte zwischen 1584 und 1589 drei Expeditionen entlang des Orinoco-Flusses unternommen und war ins südwestliche Guyana vorgestossen. De Berrios war es offenbar, der Sir Walter Raleigh vom Parime-See schwärmte. Raleigh, der englische Abenteurer und Seefahrer, fing sofort Feuer und machte sich auf die Suche des «Königreichs Eldorado».
Im 17. Jahrhundert tauchten weitere Karten mit dem Parime-See auf. Versucht man die alten Dokumente zu entziffern, so wird der See meistens – und nicht nur auf der Karte des Flamen Jodocus Hondius – im Westen des heutigen Staates Guyana (auch Guayana) eingezeichnet. Also in der an Venezuela grenzenden Region Essequibo (auch «Guayana Esequiba» genannt, oder «Territorio del Esequibo»).
Wie ausgestorben
Das Gebiet war fast zweihundert Jahre lang, von 1616 bis 1814, eine niederländische Kolonie. Den Namen hat die Region vom tausend Kilometer langen Fluss Essequibo, der Guyana von Süden nach Norden durchzieht. Das Territorium Essequibo, das westlich des Essequibo-Flusses liegt, macht heute gut 60 Prozent des Staatsgebiets von Guyana aus.
Zwar verfügt Essequibo über die Kaieteur-Wasserfälle – eines der phantastischsten Naturschauspiele weltweit. Die Fälle sind zweieinhalb Mal so hoch wie die Niagara-Fälle. Hier stürzt das Wasser in einer einzigen Stufe 226 Meter in die Tiefe. Doch allzu viele Touristen kommen nicht hierher. Wer jemals diese Region besucht, kommt sich ziemlich einsam vor. Und tatsächlich: Essequibo wirkt wie ausgestorben. Die Goldgräber sind längst abgezogen. Die Demerara-Essequibo-Eisenbahn ist seit 50 Jahren stillgelegt. Die Region ist vier Mal so gross wie die Schweiz, doch nur 250’000 Menschen leben dort. Städte gibt es keine. Die Bevölkerung lebt vor allem von der Landwirtschaft. Während Jahrzehnten war das Gebiet eine vergessene, eine verlorene Region.
Und plötzlich rückt Essequibo in die internationalen Schlagzeilen. Zwar hat man dort weder den Parime-See noch Eldorado gefunden. Doch was man jetzt fand, übertrifft alles. Allerdings liegen die Schätze nicht tief im Dschungel, wie damals geglaubt, sondern im Meeresgrund. Wieder geht es um Gold. Allerdings um schwarzes Gold. Guyana, eines der ärmsten Länder Südamerikas könnte bald zu einem der reichsten werden.
Dutzende Milliarden Barrel Rohöl
Vor der Küste Essequibos werden seit 2015 riesige Ölfelder entdeckt – und es werden immer mehr. Bereits hat die Regierung dem amerikanischen Öl-Multi ExxonMobil eine Konzession zur Exploration erteilt. Dutzende Milliarden Barrel Rohöl lagern im Meeresgrund, der zu Essequibo gehört. Die Ölreserven Guyanas sind grösser als jene der Golfstaaten. Kritisiert in Guyana wird, dass nur ein Viertel der Öleinnahmen an den Staat gehen, die restlichen drei Viertel an Exxon. Doch auch ein Viertel bringt dem Land eine Wachstumsrate von über 40 Prozent. Kein anderes Land verzeichnet zurzeit einen solchen Wert.
Das Nachbarland Venezuela blickt neidisch auf diese Ölvorkommen. Plötzlich werden alte Forderungen aktuell. Seit fast 200 hundert Jahren beansprucht Venezuela die Essequibo-Region. Doch bevor Öl entdeckt wurde, schlummerte der Grenzkonflikt vor sich hin: Jetzt ist er voll ausgebrochen. Regisseur des Konflikts ist der venezolanische Quasi-Diktator Nicolás Maduro.
Ein Botaniker zieht die Grenze
Gehört Essequibo zu Venezuela? Die Geschichte ist kompliziert und nicht so eindeutig. 1616 gründeten die Niederländer die Kolonie Essequibo. 1814 traten die Niederländer die Kolonie an Grossbritannien ab. 1831 schuf Grossbritannien British-Guayana.
1840 beauftragten die Briten den deutschen Botaniker Robert Hermann Schomburgk mit der Feststellung der Grenze zwischen Guayana und Venezuela. Vier Jahre arbeitete der Deutsche daran. Die von ihm schliesslich präsentierte «Schomburgk-Linie» schlug einen grossen Teil Essequibos britisch Guayana zu. Venezuela hat diese Grenzziehung nie anerkannt.
Venezuela wurde nicht angehört
1897 fällte eine internationale Juristenkommission den Schiedsspruch, dass die Region Essequibo zu British-Guayana gehört. In der Kommission war Venezuela allerdings nicht vertreten, sondern nur die USA, Grossbritannien und Russland. Eine seltsame Kommission, die einen der beiden Hauptakteure gar nicht anhört. Venezuela anerkannte diesen Schiedsspruch nie.
1966 wurde British-Guayana unabhängig. In Genf einigten sich Venezuela und Grossbritannien, eine Schlichtungskommission einzusetzen. Diese konnte sich vier Jahre lang nicht einigen. 2018 legte Guyana den Fall dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vor. 2020 wurde die Angelegenheit mündlich verhandelt. Venezuela anerkennt den Internationalen Gerichtshof nicht und boykottierte die Verhandlung.
95 Prozent für eine Annexion
Maduro, der mit einer schweren Wirtschaftskrise, internationaler Fast-Isolation und westlichen Wirtschaftssanktionen zu kämpfen hat, sah sich im Herbst 2023 gezwungen, den USA entgegenzukommen. Obwohl er die Opposition fast ausgeschaltet hat und schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wird, erklärte sich Washington bereit, einige Wirtschaftssanktionen aufzuheben, sofern Maduro freien Wahlen im kommenden Jahr zustimmt. So wurde denn ein Teil der amerikanischen Sanktionen aufgehoben, doch Maduro gibt bisher keine Anzeichen, dass er wirklich freie Wahlen dulden wird. Mit gutem Grund: Er weiss, dass er diese Wahlen gegen die Oppositionspolitikerin Maria Corina Machado verlieren würde.
Doch nun hat der Populist Maduro einen Weg gefunden, um sein schwer angeschlagenes Image zu verbessern. Am 3. Dezember liess er in Venezuela eine Volksabstimmung über die Annexion von Essequibo abhalten. Er wusste, dass ein grosser Teil der Bevölkerung Essequibo als venezolanisches Staatsgebiet betrachtet. Und tatsächlich: Bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent stimmten 95 Prozent für die Annexion. Wird Venezuela jetzt die Region mit seinem Militär besetzen?
Gekitzelter Nationalismus
Maduro hofft, dass die «Heimholung» Essequibos und die Aussicht auf Milliarden-Einträge der essequibischen Ölfelder ihm den Sieg bei den Wahlen bringen könnte. Eigentlich bräuchte Maduro das Öl aus Guyana nicht. Venezuela selbst sitzt auf den weltweit grössten Erdölvorkommen. Die venezolanische Ölförderung allerdings liegt wegen der Misswirtschaft des Maduro-Regimes und wegen der internationalen Sanktionen im Argen. Doch es geht dem Diktator keineswegs nur ums Öl, wie einige Kommentatoren schreiben, sondern es geht ihm um die Wahlen in einem Jahr. Mit der Forderung nach einer Annexion Essequibos kitzelt er den Nationalismus und Chauvinismus der Bevölkerung.
Doch noch gehört Essequibo längst nicht zu Venezuela. Guyana wird von der Uno in seinen bisherigen Grenzen anerkannt. Eine Grenzverschiebung wäre also nach internationalem Recht nicht möglich. Doch der Konflikt könnte weite Kreise ziehen. Russland und China gehören zu den wichtigsten Unterstützern von Maduro. Andererseits hat sich Brasiliens Präsident Lula auf die Seite Guyanas gestellt.
«Unter keinen Umständen direkt oder indirekt»
Vor zehn Tagen trafen sich Nicolás Maduro und Guyanas Staatschef Irfaan Ali zu einem Krisentreffen auf der Karibikinsel St. Vincent and the Grenadines. Sie beschlossen, «unter keinen Umständen direkt oder indirekt» Gewalt anzuwenden oder Gewalt anzudrohen. Beide Seiten beharrten jedoch auf ihren Positionen. Sie vereinbarten, dass eine Kommission, die von den Aussenministern beider Staaten geführt wird, den Streit «im Rahmen des Völkerrechts» beilegen soll. Wieder eine Kommission.
Maduro weiss wohl, dass eine kriegerische Gangart zu neuen Sanktionen gegen sein Land führen würde. Vielleicht will er auch nur Säbel-rasselnd seinem Volk gegenüber kriegerische Entschlossenheit demonstrieren – in der Hoffnung, dass sich das bei den Wahlen im kommenden Herbst auszahlt.
Doch es gibt Analytiker, die sagen, Maduro sei trotz der versöhnlichen Worte in St. Vincent and the Grenadines nicht zu trauen. Vor allem gebe es in der venezolanischen Armee starke Kräfte, die einen Einmarsch venezolanischer Truppen in Essequibo befürworten. Wie würden die USA reagieren? Wie die Briten? Guyana ist Mitglied des britischen Commonwealth. Erinnerungen an die Falkland-Inseln werden wach.
P.S.: Grossbritannien hat am Sonntag entschieden das Kriegsschiff «HMS Trent» vor die Küste von Guyana zu entsenden. Das Schiff soll nach Weihnachten an Manövern teilnehmen.