Der amerikanische Präsident streckt dem diktatorisch regierenden venezolanischen Präsidenten die Hand aus und will ihn zu Konzessionen bewegen. Doch weshalb sollte Maduro Konzessionen machen? Er sitzt ja fest im Sattel.
Venezuela, das einst blühende südamerikanische Land, ist längst ein diktatorisch regiertes Armenhaus. 7,7 Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen – ein Viertel der Bevölkerung. Es ist die grösste Massenflucht in der westlichen Hemisphäre.
Seit zehn Jahren regiert Präsident Nicolás Maduro mit eiserner Faust. Er fälscht Wahlen, wird von der Uno beschuldigt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, lässt das Parlament auflösen, kollaboriert mit Drogenkartellen, lässt Oppositionelle einsperren und teils foltern und wurde von den USA zur Festnahme ausgeschrieben.
Aus diesen Gründen hatte Donald Trump weitreichende Wirtschaftssanktionen gegen Maduro und sein Land verhängt. Den US-Amerikanern wurde verboten, mit Maduros Regierungsvertretern Geschäfte zu machen. Ihre Vermögenswerte wurden eingefroren.
Doch der venezolanische Präsident sitzt fester im Sattel denn je. Unterstützt wird er unter anderem von Russland, China, Kuba und neuerdings auch von Brasilien. An der Macht gehalten wird er von einer Clique von Generälen und anderen hohen Militärs, die für ihre Loyalität mit immensen Privilegien belohnt werden. Regierungsfeindliche Demonstrationen gibt es keine mehr. Ein Ende der Diktatur ist nicht abzusehen.
«Freie Wahlen»?
Dann plötzlich kam ein Hoffnungsschimmer auf. In einer am 17. Oktober in Barbados geschlossenen Vereinbarung versprach Maduro, in einem Jahr «freie Wahlen» abhalten zu lassen. Alle «qualifizierten» Kandidaten und Kandidatinnen dürften daran teilnehmen, sagte er. Die Wahlen würden von internationalen Beobachtern der Uno und der EU überwacht. Politische Gefangene würden freigelassen. Venezuela hält eine Handvoll US-Amerikaner fest, denen vorgeworfen wird, 2020 einen Putsch gegen Maduro geplant zu haben.
Im Gegenzug kündigten die USA an, die Wirtschaftssanktionen zu lockern. Vorerst für sechs Monate. Vor allem soll es Venezuela erlaubt werden, mehr Rohöl zu verkaufen.
Negative Reaktionen
Die Reaktionen waren vorwiegend negativ. Lässt sich Biden von Maduro über den Tisch ziehen, hiess es. Es sei naiv zu glauben, der venezolanische Präsident würde seine Macht abgeben. Er werde nur chancenlose Kandidaten zulassen und die Wahlen in seinem Sinn fälschen. Was er schon früher getan hat.
Viel spricht für diesen negativen Ausblick. Bereits wenige Tage, nachdem der Hoffnungsschimmer aufgekommen war, ruderte Maduro zurück und setzte sich kaltschnäuzig aufs hohe Ross. Seinen Regierungssprecher liess er sagen, Venezuela werde «keinen Druck, keine Erpressung und keine Einmischung von irgendeiner Macht oder irgendeinem Land» akzeptieren. Ein Beispiel für diese harte Haltung lieferte die Regierung gleich sofort.
92 Prozent für Maria Corina Machado
Im Hinblick auf mögliche Wahlen im nächsten Jahr hatte die Opposition am 22. Oktober Primaries veranstaltet, um den Kandidaten oder die Kandidatin für die Wahlen im nächsten Jahr zu bestimmen. Fast zweieinhalb Millionen Venezolaner und Venezolanerinnen nahmen daran teil. Mit 92 Prozent gewann die rechtsstehende Maria Corina Machado, eine 56-jährige landesweit bekannte frühere Parlamentarierin.
Doch sogleich erklärte die Regierung, die Abstimmung sei null und nichtig. Machado hätte gar nicht kandidieren dürfen, da sie mit einem 15-jährigen Polit-Verbot belegt sei. Zudem hätten nicht zweieinhalb Millionen Menschen an der Wahl teilgenommen, sondern nur 550'000. Die Organisatoren der Vorwahlen müssen sich nun vor Gericht verantworten. Die Wahlzettel wurden konfisziert und vernichtet.
War Biden also naiv?
Sofort wurde klar: Aussichtsreiche Kandidaten und Kandidatinnen, die im kommenden Jahr gegen Maduro antreten könnten, werden von der Wahl ausgeschlossen. Beobachter sind überzeugt, dass Machado die Präsidentenwahl gegen Maduro gewinnen würde.
Der Wirtschaftswissenschaftler Luis Zambrano erklärte gegenüber der spanischen Nachrichtenagentur EFE, die Regierung habe bereits ein «sehr schlechtes Signal» ausgesendet.
Auch in Venezuela glaubt kaum jemand daran, dass Maduro seine Macht freiwillig abgeben wird. War Biden also naiv, als er dem Diktator entgegenkam und die Sanktionen für sechs Monate lockerte?
Über Dschungelpfade in die USA
Es geht den USA nicht nur darum, die Demokratie in Venezuela wieder herzustellen. Es geht auch um die Flüchtlingsströme. Hunderttausende Menschen, die Venezuela verlassen haben, sind über Zentralamerika an die Grenze der USA vorgestossen. Die meisten haben sich durch den tropischen Regenwald des Darién Gap, ein Gebiet zwischen Kolumbien und Panama, in dem es nur Dschungelpfade gibt, durchgekämpft.
Diese Migrantenflut hoffen die USA eindämmen zu können, wenn in Venezuela das tägliche Elend der Bevölkerung (es fehlt an Lebensmitteln, an medizinischer Versorgung, an Arbeit) gelindert werden könnte.
Nicht nur die USA, auch viele lateinamerikanische Länder haben mit einem Zustrom venezolanischer Migranten zu kämpfen. Sie belasten die gesamte Region und verschärfen die politischen Spannungen in ihren Ländern. Deshalb begrüssen es viele lateinamerikanische Regierungen, dass die USA jetzt Venezuela entgegenkommen.
«Die letzte Gelegenheit, etwas anderes auszuprobieren»
Biden hat deshalb mit mehreren Staats- und Regierungschefs aus Süd- und Zentralamerika Kontakte aufgenommen. Obwohl man auch in Washington pessimistisch ist, hat man sich entschlossen, etwas zu wagen, um die völlig festgefahrenen Beziehungen vielleicht aufweichen zu können. Das Abkommen, das die USA mit Venezuela geschlossen haben und das Wahlen im nächsten Jahr vorsieht, sei «die letzte Gelegenheit, etwas anderes auszuprobieren», sagte ein Regierungsbeamter in Washington. So könne versucht werden, «ein Wahlergebnis zu unterstützen». Ziel sei es schliesslich, die venezolanische Wirtschaft zu stabilisieren und die Armut zu bekämpfen – und so den Flüchtlingsstrom zu stoppen.
Der Vorwurf der Naivität weist die amerikanische Regierung zurück. Wenn Maduro in nächster Zeit keine positiven Signale aussendet, ziehen sich die USA wieder zurück. In den nächsten sechs Monaten müsse Maduro zeigen, dass es ihm ernst sei mit konkreten Konzessionen.
«Nur tropfenweise» venezolanisches Öl
Mit ihrer ausgestreckten Hand wollten die USA – so ein Vorwurf – nicht nur die Flüchtlingsströme stoppen. Ziel sei es auch, an das venezolanische Öl heranzukommen. Tatsächlich wäre in einer Zeit, in der wegen des Russland-Embargos Versorgungengpässe drohen, das venezolanische Öl hochwillkommen. Auch die Ereignisse im Nahen Osten lasten auf der westlichen Wirtschaft. Kein Land verfügt über derart riesige Ölvorkommen wie Venezuela.
Doch die USA wissen, dass das venezolanische Öl «nur tropfenweise» gefördert werden kann. Die Förderanlagen befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Es fehlt – auch wegen der US-Sanktionen – an Ersatzteilen. Die riesigen Fördertürme im Maracaibo-See rosten vor sich hin und sind teilweise eingestürzt. Es fehlt an Strom, an Know-how und Manpower. Viele Zufahrtsstrassen sind nicht mehr befahrbar.
Zurzeit werden etwa 760'000 Barrel pro Tag gefördert. Wenn jetzt die Sanktionen aufgehoben werden, könnten es insgesamt höchstens 200'000 Barrel mehr sein. Das ist nicht viel. 2007, vor der Verstaatlichung, förderte die venezolanische Ölindustrie 3,15 Millionen Fass. Um die venezolanische Ölindustrie wieder flott zu machen, wären über viele Jahre hinweg Milliarden-Investitionen nötig. Die Weltwirtschaft wird also weder morgen noch übermorgen im grossen Stil an das venezolanische Öl herankommen.
Die Stimmung hat sich geändert
Die USA hoffen, dass sie mit ihrem überraschenden Strategiewechsel auch andere lateinamerikanische Staaten ins Boot holen können. Der Druck auf Maduro, Konzessionen zu machen, würde dann wachsen, hofft Washington. Gelingt es den lateinamerikanischen Führern, Maduro zu Konzessionen zu bewegen?
Doch vielleicht bleibt Maduro stur. Immer mehr Stimmen fordern, dass man mit ihm – auch als Diktator – zusammenarbeitet und die Sanktionen aufhebt. «Die Stimmung in der Region hat sich geändert», sagt Andrew Selee, Präsident des Migration Policy Institute. Es bestehe «ein grösserer Wunsch, Venezuela wieder in den Schoss zu holen».
Kolumbien, das Nachbarland mit seinem linken Präsidenten Gustavo Petro, hat sich längst auf seine Seite geschlagen. Schon im September letzten Jahres hatten Kolumbien und Venezuela ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Mit riesigem Tamtam, mit Fahnen, Ballons und Musik wurde der Grenzübergang auf der Simon-Bolivar-Brücke wieder geöffnet.
Die verlorene Aura des Ignácio Lula da Silva
Und jetzt auch Brasilien. Der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva weiss, dass Maduro die letzten Wahlen gefälscht hat. Er weiss auch, dass Maduro ein Diktator ist, der seine Gegner ins Gefängnis wirft. Dennoch hat sich Lula jetzt überraschenderweise klar auf der Seite des venezolanischen Präsidenten positioniert. Lula bezeichnet Maduro gar als «demokratisch legitimierten Präsidenten». Die amerikanische Sanktionspolitik sei «schlimmer als Krieg», sagte er. Zwar hat sich Lula damit in weiten Kreisen lächerlich gemacht und auch in linken Kreisen viel von seiner Aura verloren, doch die Position von Maduro hat er weiter gestärkt.
Selbst der chilenische Präsident Gabriel Boric, ein Linker, begrüsst die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Venezuela. Boric ist alles andere als ein Freund von Maduro und bezeichnete sein Regime offen als Diktatur.
Fröhliche Gemeinsamkeit
Am 22. Oktober war Maduro zu einem Gipfeltreffen lateinamerikanischer Länder ins südmexikanische Palenque eingeladen worden. Thema: Die Migration. Die Präsidenten Kubas, Haitis, Mexikos, Kolumbiens und die Präsidentin von Honduras liessen sich nach dem Treffen zusammen mit Maduro in fröhlicher Gemeinsamkeit fotografieren. Von Isolation des venezolanischen Präsidenten keine Spur mehr.
Maduro kann also auf mehr und mehr Unterstützung zählen. Was braucht er da im Hinblick auf künftige Wahlen Konzessionen zu machen?