Journal21.ch: Birgit, bist Du gesund?
Birgit Eger Bertulessi: Ja, ich habe Glück, ich bin gesund. Aber die Situation ist dramatisch.
Du bist Lehrerin an der Schweizer Schule in Bergamo *). Wie habt Ihr auf den Ausbruch der Epidemie reagiert?
Das Virus brach während der Sportferien aus. Wir haben von einem Tag auf den anderen entschieden, die Schule zu schliessen. Jetzt unterrichten wir online. Das funktioniert gut. Ich arbeite klar mehr als früher. Natürlich gibt es kleinere Probleme. Nicht alle haben einen Computer, nicht alle konnten sich einloggen. Aber wir arbeiten zusammen, Team, Schülerinnen und Schüler und natürlich auch die Eltern, und kommen weiter. Learning by doing.
Es gibt nicht viele Journalisten in Bergamo; sie haben Angst, angesteckt zu werden. Du sitzt mittendrin, sozusagen mitten im Auge des Zyklons. Wie präsentiert sich die Situation?
Schrecklich. Wir sehen riesige Kolonnen von Militärfahrzeugen, alle beladen mit Särgen. Das Krematorium in Bergamo ist überlastet und kann nicht mehr alle Toten der Stadt kremieren. So werden die Särge ins Krematorium von Crema gefahren, einem Städtchen südlich von Bergamo.
Auf dem Friedhof spielen sich gespenstische Szenen ab. Immer wieder kommen neue Särge an. Die Toten werden in aller Stille beerdigt, denn nur die allerengsten Angehörigen werden zugelassen. Manchmal ist während der Beerdigung ausser dem Totengräber gar niemand anwesend.
In Italien sind bisher fast 3’500 Menschen gestorben, mehr als in China. Allein heute wuden in Italien offiziell 627 Tote gemeldet. Die Lombardei und vor allem der Raum Bergamo-Brescia sind im Moment am schlimmsten von dem Virus betroffen. Innerhalb eines Tages gab es jetzt in der Lombardei 2271 neue Infektionen. Auch Ärzte sind infiziert. Täglich sterben in unserer Region über 200 Menschen.
Wie oft gehst Du aus dem Haus?
Fast nie.
Herrscht eine totale Ausgangssperre?
Ja, endlich. Die meisten Leute sitzen zuhause in Quarantäne. Wer seine Wohnung oder sein Haus verlässt, muss ein offizielles Dokument mit sich tragen. Diese Formulare, „autocertificazione“ genannt, wurden allen Einwohnerinnen und Einwohnern zugestellt. Man muss darauf eintragen, weshalb man nach draussen will. Zum Beispiel: Besuch der Apotheke, einkaufen, Besuch der alten Eltern. Die Sicherheitskräfte machen Kontrollen. Wer ohne ein solches Dokument im Freien erwischt wird, bekommt eine Strafanzeige, habe ich gehört, man zahlt eine Busse von bis zu 200 Euro. Doch fast alle halten sich an die Vorschriften. In den letzten zwei Wochen wurden in Bergamo nur wenige Bussen verteilt.
Ist Bergamo eine Geisterstadt?
Ja. Die Strassen sind fast leer. Die Autobahn zwischen Mailand und Bergamo erstickt normalerweise im Verkehr. Jetzt ist sie leergefegt. Man könnte ein Picknick mitten auf der Fahrbahn veranstalten.
Wie sieht es in den Supermärkten aus?
Man lässt jeweils nur wenige Leute aufs Mal hinein. Die Menschen zeigen eine unglaubliche Disziplin. Sie warten vor dem Supermarkt in Schlangen und halten Abstände von je zwei Metern oder mehr. Alle sind ruhig und gefasst.
Gibt es genug zu kaufen?
Das ist nicht das Problem. Die Gestelle sind gut gefüllt. Ja, auch hier gab es Hamster. Aber die Versorgungslage ist gesichert. Ich kriege alles, was ich will. Zum Beispiel beim Metzger bei uns im Ort am Dorfplatz hat ein Bäcker auch noch einen Korb Brote hingestellt, gratis.
Helfen sich die Leute gegenseitig?
Ja, und wie. Das ist wunderbar. In der Not stehen die Leute zusammen. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert gut. Wir sprechen uns untereinander ab. Da man möglichst wenig ins Freie will und darf, wechselt man sich ab. Mal geht diese Nachbarin in den Supermarkt, mal jener Nachbar. Man kauft dann für mehrere ein und verteilt die Ware. Viele zivile Helfer sind im Einsatz. Hausfrauen und Restaurant-Köche bereiten unentgeltliches Essen für Bedürftige vor. Man telefoniert alten, einsamen Leuten, damit sie sich nicht so allein fühlen. Ich habe gehört von einer Theatergruppe, die den Kindern auf Wunsch eine Geschichte erzählen, aber kein Video auf Youtube, sondern direkt für das einzelne Kind erzählt, wie eine Art „Märli-Pizza-Service“.
Was tut man den ganzen Tag zuhause?
Ich sitze zwölf Stunden am Computer. In der Mittagspause oder am Abend spaziere ich mit meinem Mann um unseren Block herum, um etwas frische Luft zu schnappen.
Warum ist jetzt gerade Bergamo der italienische Seuchenherd Nummer eins?
Als die Seuche am 22. Februar im Städtchen Codogno südlich von Bergamo ausbrach, wurde die Gegend um Codogno sofort zur Roten Zone erklärt. Das heisst, die Leute durften die Häuser nicht mehr verlassen und niemand durfte in die Zone hinein oder hinaus. Es herrschte Ausnahmezustand.
Als dann das Virus in Alzano Lombardo und Nembro nördlich von Bergamo ausbrach, erwarteten wir, dass auch diese Gebiete sofort zur Roten Zone erklärt würden. Wir alle haben uns darauf eingestellt und darauf vorbereitet. Doch nichts geschah.
Gibt es Informationen, weshalb sich die Seuche plötzlich in Alzano verbreitete?
Der Ausbruch in unserer Gegend ist möglicherweise auf einen schlimmen Fehler im Spital von Alzano Lombardo zurückzuführen. Ein Chefarzt war mit dem Virus angesteckt worden und steckte weitere Ärzte, einen Pfleger und Patienten an. Möglicherweise liegt hier der Ursprung der jetzigen, schrecklichen Lage. Zurzeit wird spekuliert, wie das Virus in das Spital kam. Kam es von einem Chinesen, der im Spital gepflegt wurde? Die Lombardei ist eine Industrieregion und ist mit dem Ausland stark verflochten. Auch viele Chinesen kamen hierher.
Es gab ein Hin und Her. Dann kam das Militär und riegelte einige Gebiete ab, dann waren die Soldaten plötzlich wieder weg. Die lokalen Behörden, auch Giorgio Gori, der Bürgermeister von Bergamo, schlugen Alarm. Eine Woche verstrich – nichts geschah.
Hätte man schnell eine Rote Zone ausgerufen und durchgesetzt, hätte man die Ausbreitung des Virus nicht verhindern, aber doch auf tieferem Niveau halten können. Mit strengen Massnahmen hätte man Leben retten können. Doch Rom wollte nicht.
Weshalb nicht?
Darüber wird hier heftig spekuliert. Einige sprechen von Kommunikationspannen, andere geben der Römer Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte die Schuld. Er habe die Wirtschaftsleistung nicht ganz herunterfahren wollen, heisst es. Was auch immer. Auch die lokale Wirtschaft wehrte sich gegen drastische Massnahmen, weil sie dadurch viel Geld verliert. Wir hätten Massnahmen benötigt wie sie Südkorea verordnete. Hätte man Südkorea zum Vorbild genommen, wären wir heute an einem anderen Punkt. Rom hat inzwischen den Fehler erkannt und spricht von einer „bedauernswerten Panne“. Dass man in Rom die dramatische Lage bei uns zu spät erkannte, mag auch darin liegen, dass in der Hauptstadt viel weniger Leute am Virus sterben als bei uns.
Die Spitäler sind an der Kapazitätsgrenze. Wie geht man damit um?
Etwas muss man betonen: Was unsere Behörden, unser medizinisches Personal und unsere Helfer hier in der Region Bergamo geleistet haben, ist einmalig. Das muss man erst einmal machen. Am Anfang hiess es, drei Spitäler würden für die Infizierten genügen. Dann häuften sich die Fälle und die ursprünglich vorgesehenen Krankenhäuser waren überfordert. Jetzt verordnete man, dass in jedem kleinsten Spital mindestens ein Stockwerk zur Behandlung von Corona-Infizierten freigelegt werden muss. Aber natürlich genügt das noch immer nicht. Einige der Kranken werden in andere italienische Regionen verlegt. Doch diese haben keine grosse Lust, Infizierte aufzunehmen.
Jetzt wird auch auf dem Messegelände Bergamo ein Feldspital mit 200 Betten eingerichtet. Man versucht jetzt, das nötige medizinische Personal aufzubieten und an das nötige medizinische Material zu kommen. Das lässt auf sich warten, was den Bürgermeister in Wut versetzt. Er sagte gestern, in Bergamo seien in den ersten zwei März-Wochen viermal mehr Leute gestorben als während des ganzen letztjährigen Monats März.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Ist man wütend auf Rom, ist man fatalistisch?
Es gibt die ganze Bandbreite. Ja, viele sind wütend auf die Regierung Conte, weil sie zu lange gezögert hat, drastische Massnahmen zu ergreifen. Das war ein Fehlentscheid, den einige jetzt mit dem Leben bezahlen. Doch die meisten Leute, die ich hier kenne, machen sich Mut. Sie sagen, das geht vorbei, wir schaffen das. Man hält sich an die Regeln.
Man will sich Mut machen. Da und dort hängen auch Zettel und kleine Plakate. Darauf steht: „Andrà tutto bene“, alles wird gut herauskommen. Oder: „Everything will be fine“. Im Stadion des Fussballclubs Atalanta-Bergamo wurde ein riesiges Plakat aufgezogen, das nachts sogar beleuchtet ist. Die Leute können es von ihrem Balkon aus sehen. Darauf steht: „Molamia“. Das heisst: non mollare, nicht aufgeben. Mein Mann Giuseppe sagt allerdings, statt aufmunternder Worte der Atalanta-Tifosi hätte er sich lieber ein rigoroses Eingreifen der Zentralregierung in Rom gewünscht.
Trotzdem muss man sagen, dass die Regierung von Ministerpräsident Conte vieles richtig macht. Seine Popularität steigt denn auch. Die Zeitung La Repubblica ermittelte gestern, dass 71 Prozent der Italienerinnen und Italiener hinter ihm stehen. Einen solchen Popularitätswert hatte, so glaube ich, kaum je ein italienischer Regierungschef.
In mehreren Städten erschienen am Wochenende viel Italienerinnen und Italiener an den Fenstern, sangen und machten Musik. Gibt es das in Bergamo auch?
Nein, uns ist die Lust auf Singen vergangen.
Giorgio Gori, der Bürgermeister sagte in einem Interview: Nutzt die Zeit gut, die ihr noch zur Verfügung habt. Das klingt ja nicht gerade vielversprechend.
Ist es auch nicht. Die Frage ist, wie lange das alles noch dauert. Bekannt wurde heute, dass die Schulen länger geschlossen bleiben als bisher geplant. Man hatte gehofft, sie am 3. April wieder öffnen zu können. Jetzt entschied man, dass es mindestens Mai werden würde. Einige rechnen damit, dass die Situation bis im September andauert.
Es heisst, in Mailand würde die Ausgangssperre nicht rigoros befolgt.
Gestern besuchte der Vizepräsident des chinesischen Roten Kreuzes die Lombardei. Er sagte, in Mailand seien noch allzu viele Leute unterwegs. Doch Bergamo ist nicht Mailand. Hier bei uns wird jetzt der Ernst der Lage wirklich erkannt. Hier ist die Botschaft angekommen. Es gibt nur eines: drastische Massnahmen wie in Südkorea.
Gefragt sind auch gute Ideen, wie man trotz allem das Leben gestalten kann, mit Einschränkungen zwar, aber im Sinne einer Gemeinschaft, die ihre Risikogruppen schützen will. Wenn wir das schaffen, wenn wir durchhalten und die Einschränkungen strikte akzeptieren, dann werden wir diesen unsichtbaren Feind bezwingen. Das wird leider nicht morgen sein.
*) Birgit Eger Bertulessi ist in der Schweizer Schule in Bergamo Klassenlehrerin einer vierten Klasse. Sie unterrichtet alle Fächer ausser Italienisch und Englisch. Ihre Klasse besteht aus 19 etwa zehnjährigen Schülerinnen und Schülern. Viele von ihnen haben internationale Eltern. Auch Kinder mit Schweizer Eltern gibt es, allerdings weniger als früher. Insgesamt unterrichtet die Schweizer Schule in Bergamo etwa 200 Kinder im Alter von drei bis 15 Jahren.
Bergamo liegt nordöstlich von Mailand in der Lombardei. Die Stadt hat 120’000 Einwohner. Sie besitzt eine Universität und eine Schweizer Schule, an der Birgit Eger Bertulessi lehrt. Die Stadt lebt vor allem von der chemischen Industrie, vom Stahlbau, der Produktion von Baumaterialien und besitzt mehrere Forschungsinstitute. Die Arbeitslosigkeit liegt weit unter dem italienischen Durchschnitt. Die Oberstadt, die Città Alta, steht unter Denkmalschutz und ist eine der grössten Touristenattraktionen der Lombardei. Die venezianischen Stadtmauern gehören zum Unesco-Welterbe. Der Architekt Le Corbusier bezeichnete die Stadt als „verehrenswürdige Unbekannte“ und nannte die Piazza Vecchia „einen der schönsten Plätze der Welt“. (hh)