Jedem Neutralen seine eigene Neutralität. In der Schweiz hat die Frage der Positionierung im Streit um die Krim eine Diskussion ausgelöst, die Züge eines Religionskriegs um die reine Lehre trägt.
Maxime der Eidgenossenschaft
Die SVP hält schon die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen und den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als unverträglich mit Neutralität. Auf der anderen Seite des innenpolitischen Spektrums plädiert die Linke für eine aktive Neutralität mit dem Angebot von Vermittlungsdiensten in internationalen Konflikten. Sogar von einer „möglichst offensiven Gestaltung der Neutralität“ ist die Rede. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind unklar.
Die Auseinandersetzung wird wahrscheinlich deshalb mit so grosser Leidenschaft geführt, weil die Schweiz sozusagen die Mutter aller Neutralitäten ist. Schon nach der verlorenen Schlacht von Marignano im Jahre 1515, deutlich aber seit dem Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreissigjährigen Krieg beendete und die Schweizer Souveränität verbriefte, wurde die immerwährende Neutralität eine Maxime der damaligen Eidgenossenschaft. Die Schweiz in ihren heutigen Grenzen wurde im Wiener Kongress von 1815 als Pufferstaat zwischen Österreich und Frankreich geschaffen. Die Siegermächte der napoleonischen Kriege stellten die Vorherrschaft des Adels wieder her und erkannten die Nützlichkeit der Schweizer Neutralität an.
Österreichs taktische Manöver
Ursprünglich bedeutete Neutralität bloss die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg. Die Rechte und Pflichten sowohl der neutralen wie der kriegführenden Staaten wurden in der Haager Landkriegsordnung von 1907 verankert. Diese Grundsätze sind aber nicht in Granit gemeisselt. Die Neutralität entwickelt sich weiter und passt sich den jeweiligen Umständen an. Die Schweiz ist auch nicht mehr der einzige neutrale Staat in Europa. Sie teilt diesen Status heute mit Österreich, Schweden und Finnland. Jedes dieser Länder hat seine eigene Auffassung.
Österreich wurde 1955 nach zehn Jahren Besetzung wieder frei. Der von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs unterzeichnete Staatsvertrag verpflichtet Österreich zu einer immerwährenden Neutralität nach Schweizer Vorbild. Früher als die Schweiz nutzte die österreichische Regierung in den siebziger Jahren unter Bundeskanzler Bruno Kreisky die Neutralität dazu, auf dem internationalen Parkett tätig zu werden. Auf diese Weise gelang es Österreich, seinen Aussenminister Kurt Waldheim für zehn Jahre auf den Stuhl des UNO-Generalsekretärs zu hieven und einen beträchtlichen Teil der Aktivitäten der UNO und andere internationale Organisationen auf Kosten Genfs nach Wien zu ziehen. Einträgliche Geschäfte mit dem Ostblock folgten. Alles lief allerdings nicht nach Wunsch. So macht sich der Jude Kreisky die israelische Premierministerin Golda Meir zur Todfeindin, weil er den Dialog mit dem Palästinenserführer Jasser Arafat aufnahm.
Finnland und Schweden
Für Finnland bedeutet die selbst gewählte Neutralität im Wesentlichen, den grossen Nachbarn Russland nicht zu reizen. Dieser Verzicht auf jegliche Provokation wurde während des Kalten Krieges von westlichen Falken als „Finnlandisierung“ verhöhnt. Den Finnen bescherte ihre Politik indessen wirtschaftlichen Aufschwung und leitende Posten in der UNO und in anderen internationalen Organisationen. Finnische Soldaten sind als Blauhelme in Friedensmissionen sehr geschätzt. Helsinki war der Schauplatz der ersten Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über eine Begrenzung der Atomwaffenarsenale und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Schweden blieb im Ersten und im Zweiten Weltkrieg neutral. Zwischen den beiden Weltkriegen bemühten sich die Schweden um einen Neutralitätspakt zwischen allen skandinavischen Staaten. Wie Österreich und Finnland ist auch Schweden nicht Mitglied der Nato. Unter seiner derzeitigen konservativen Regierung hat das Land aber einen politischen Ruck nach Westen vollzogen. Die Neutralität ist für die einstige regionale Grossmacht kein Glaubensbekenntnis, sondern ein ständig austarierter Pragmatismus.
Allein auf weiter Flur
Ihre grosse Zeit erlebten die vier neutralen Staaten Europas während der KSZE-Verhandlungen. Sie bildeten eine homogene Gruppe und hatten grossen Anteil daran, dass die Menschenrechte und Grundfreiheiten 1975 in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben wurden. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde ihre Vermittlerrolle weitgehend überflüssig. Österreich, Schweden und Finnland sind der Europäischen Union beigetreten, ohne dies als Abkehr von ihrer Neutralität zu empfinden. Im Falle Österreichs hätten die Russen als Signatarmacht des Staatsvertrags Einspruch gegen den Beitritt zur EU erheben können. Sie taten es aber nicht. Dies ist die völkerrechtliche Bestätigung, dass Neutralität durchaus mit der EU-Mitgliedschaft vereinbar ist, weil jeder Staat seine aussenpolitische Handlungsfreiheit behält.
Die Schweiz steht heute allein auf weiter Flur. Angesichts der neuen internationalen Spannungen ist es aber leicht möglich, dass die guten Dienste der Neutralen wieder gern in Anspruch genommen werden. Die Präsidentschaft der Schweiz in der OSZE ist eine Fügung des Geschicks. Erfolge werden sich aber nur einstellen, wenn sich die Schweizer Diplomatie nicht mit unrealistischen Initiativen aufdrängt wie zur Ära von Micheline Calmy-Rey.