Über das vergangene Wochenende sind in Tripolis schwere Unruhen ausgebrochen. Die vor dem vergangenen April in Tripolis regierende, nicht international anerkannte Gruppe GNC (für Governing National Council) war im April zurückgetreten, um der neuen von der Uno und den meisten umliegenden Staaten unterstützten GNA („Government of National Accord“), auch „Enheitsregierung“ genannt, zu weichen.
Doch nun hat der einstige „Ministerpräsident“ der GNC, Khalifa Ghweir, seinen Rücktritt und den seiner Regierung widerrufen und erklärt, er sei mit seiner alten Regierung zur Macht zurückgekehrt. Er hat mit einigen Bewaffneten das Lokal in Besitz genommen, in dem die parlamentsähnliche Versammlung der Einheitsregierung, die sich „Höchster Staatsrat“ nennt, zusammenzutreten pflegte. Dieses Lokal, das im Hotel Rixos von Tripolis liegt, stand leer. Auch andere Lokale in Tripolis, die der Einheitsregierung dienten, scheinen besetzt worden zu sein.
Enttäuschung über die Einheitsregierung
Ghweir versuchte seine Aktion zu rechtfertigen, indem er erklärte, die Einheitsregierung habe die Hoffnungen nicht erfüllt, die auf sie gesetzt worden seien, und sie sei ihren Versprechen nicht nachgekommen. Unter der Einheitsregierung seien die Sicherheit und die wirtschaftliche Lage der Libyer nur noch schlechter geworden. Sie sei deshalb abgesetzt. Die bisherige Regierung von Tripolis sei zur Macht zurückgekehrt. Ghweir sagte auch, er wolle Blutvergiessen vermeiden, und er schlage Abdullah al-Thinni, dem Vorsitzenden der in Tobruk ansässigen Gegenregierung, Verhandlungen vor, um die beiden Regierungen zusammenzuschliessen.
Doch die von Ghweir für abgesetzt erklärte Einheitsregierung (GNA) befindet sich ebenfalls in Tripolis. Sie hält weiterhin einige Lokale in ihrem Besitz und es scheint, dass einige der Ministerien ihr weiterhin Gefolgschaft leisten. Sie hat die Aktion Ghweirs als Hochverrat gebrandmarkt. In Tripolis wurde der Notstand ausgerufen. Die Unruhen haben zu Blutvergiessen geführt. Einige Zivilsten sollen ihr Leben verloren haben.
Annäherung der GNA an Haftar
Am 16. Oktober hatte der Uno-Sonderbeauftragte, Martin Kobler, in einem Zeitungsinterview erklärt, der umstrittene General Haftar sollte „eine leitende und kontrollierende Rolle in Libyen erhalten“.
Haftar ist das Haupthindernis, das der Anerkennung der Einheitsregierung (GNA) durch die Regierung von Tobruk entgegensteht. Er hatte dafür gesorgt, dass die Tobruk-Regierung und ihr Parlament die GNA ablehnten. Kobler dürfte versucht haben, seine Opposition zu überwinden, indem er ihm öffentlich eine Rolle in der Einheitsregierung versprach.
Doch dies war genug, um den zurückgetretenen Ghweir dazu zu veranlassen, seinen Rücktritt rückgängig zu machen. Haftar ist für ihn und seine Gesinnungsgenossen in Tripolis ein rotes Tuch. Sie werfen ihm vor, er wolle sich zum Diktator über Libyen aufwerfen. Dieser Vorwurf kann nicht als völlig grundlos abgetan werden.
Haftars politische Fortschritte
Nicht nur Kobler hat sich Haftar anzunähern versucht, auch die Einheitsregierung war offenbar zum Schluss gekommen, dass sie sich mit ihm zu einigen habe. Dies geschah, nachdem die Truppen Haftars Mitte September die vier Erdölladehäfen an der Syrte in Zentrallibyen besetzt hatten und dafür sorgten, dass die Libysche Nationale Erdölgesellschaft von dort wieder Erdöl exportieren konnte. Es war dadurch zu einer Zusammenarbeit zwischen Haftar und der Einheitsregierung in den Erdöl- und Finanzfragen gekommen.
Für Ghweir und seine Gesinnungsgenossen jedoch war die Aussicht auf eine Zusammenarbeit zwischen der Einheitsregierung und Haftar unerträglich. Sie versuchten daher den alten Zustand mit zwei Regierungen wiederherzustellen, der eigenen in Tripolis und der ihr entgegengesetzten in Tobruk.
Ghweir steht dem libyschen Grossmufti von Tripolis nahe, der als ein Vorkämpfer der Idee eines islamischen Staates gilt. Viele der Anhänger Ghweirs sind Sympathisanten der Muslimbrüder. Haftar ist ein Feind aller Islamisten, einschliesslich der Muslimbrüder. Er steht Präsident al-Sissi in Ägypten nahe, und seine Feinde glauben, er gedenke nach dem Vorbild al-Sissis zu regieren und Libyen sogar in eine „ägyptische Kolonie“ zu verwandeln.
Die Milizen diktieren
Wie immer in Libyen sind die bewaffneten Gruppen ausschlaggebend dafür, was politisch geschieht. Die libysche Präsidialgarde, die seit April zur Einheitsregierung gehalten hatte, sagte sich in einer Pressekonferenz von der Einheitsregierung los. Dies geschehe, weil diese Regierung erfolglos geblieben sei und die erhoffte Einheit Libyens nicht habe verwirklichen können, erklärten sie.
„Wir sind mit anderen revolutionären Brigaden darüber übereingekommen, dass die GNC (Ghweirs) die einzige legitime Autorität in Libyen darstellt, wie es das Oberste Gericht (in einem umstrittenen Rechtsspruch) im November 2014 befunden hat“, erklärte der Sprecher der Präsidialgarde. Gleichzeitig wurden auch Klagen laut, die Mannschaften der Präsidialgarde seien seit März nicht mehr besoldet worden. Ob freilich die ganze Garde oder nur ein Teil von ihr die Einheitsregierung verlassen hat, ist ungewiss. Die Einheitsregierung behauptet, nur einige „Verräter“ seien abtrünnig geworden.
Misrata-Milizen im fernen Sirte
Ein weiterer wichtiger Faktor im Hintergrund des politischen Dramas ist der Umstand, dass die Misrata-Milizen, die als die bestgeführten und mächtigsten aller tripolitanischen Kampfverbände gelten, nach wie vor im Dienst der Einheitsregierung in der Stadt Sirte, gut 500 Kilometer von Tripolis entfernt, gegen den IS kämpfen. Nach wie vor gibt es in Sirte Stadtteile, in denen IS-Kämpfer sich halten. Die amerikanische Luftwaffe hat über das vergangene Wochenende 36 Angriffe in Sirte geflogen, und die dortigen Misrata-Kämpfer sollen 14 Gefallene beklagen.
Solange die Misrata-Milizen in Sirte mit dem IS beschäftigt sind, können Ghweir und die Seinen in Tripolis unbeschwert handeln. Die Milizen der Stadt Misrata hatten vor dem vergangenen April den wichtigsten Teil des Milizenbündnisses gebildet, das damals unter dem Namen „Libysche Morgenröte“ die Hauptstadt beherrschte. Im April hatten sie sich für die neue Einheitsregierung erklärt.
Ausdauernde Islamisten
Die Kämpfer des IS halten sich zäh in Sirte, obwohl die baldige völlige Säuberung dieser Stadt, oder besser ihrer Ruinen, schon seit Wochen angekündigt worden war. Ähnlich steht es in Bengasi, wo die Truppen Haftars nun schon seit Jahren versuchen, die Stadt völlig zu beherrschen. Sie belagern offenbar weiterhin das Quartier Gandoufa, und französische Kriegsflugzeuge helfen ihnen dabei mit Bombardierungen. Doch der Schura-Rat von Bengasi warnt, er werde auf alle Kräfte das Feuer eröffnen, die Gandoufa beschössen. Der Schura-Rat ist der Zusammenschluss verschiedener islamistischer Milizen – ohne den IS, der in Bengasi von Haftar bekämpft wird.
Die Truppen Haftars haben auch Derna erneut bombardiert, was zeigt, dass sich auch in dieser Hafenstadt der Cyrenaika islamistische Milizen, die ebenfalls nicht zum IS gehören, gegen die Truppen Haftars halten.