Eine Diskussion bahnt sich an, die zu erwarten war: Junge endlich freilassen und Alte einschliessen? In den sogenannt „sozialen Medien“ scheint eine Kontroverse über den Generationenkonflikt entbrannt zu sein.
Der Lockdown sei nur zum Schutz der „Alten“ ausgerufen worden, denn diese seien vom Todesrisiko besonders betroffen, wird moniert. Und bezahlen müssten einmal mehr die Jungen. Die NZZ geht sogar so weit, eine Neuregelung der Finanzierung der Altersvorsorge in der Schweiz an dieser Thematik aufzuhängen. Diese Diskussion ist brandgefährlich. Besser also, sich damit zu befassen.
In Deutschland – dem europäischen Mutterland der Verfassungsgläubigkeit – ist die Frage längst auf dem Tisch, wieviel Einschränkungen man der Gruppe der über 65-Jährigen zumuten darf, ohne ihre verfassungsmässig garantierte Menschenwürde zu verletzen. In der Schweiz wird das – und dies ist durchaus begrüssenswert – etwas pragmatischer gehandhabt: Mangels Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene muss man sich jeden Tag etwas kundig machen, wie es tönt in den Medienkonferenzen des Bundesrates. Was das Parlament zu diesen Grundsatzfragen sagen wird, wenn es denn ab dem 2. Mai wieder tagen wird, ist auch von zentraler Bedeutung.
Zu Hause einschliessen?
Was aber bedeuten diese Fakten für mich persönlich? Eine Erfahrung will ich hier nicht unterschlagen: Die vielen Angebote zum Einkäufe besorgen für mich, die mir als über 65-Jähriger und dementsprechend als Angehörige einer „Risikogruppe der gefährdeten Personen“ zugingen, haben mich echt gefreut, und ich habe sie auch immer von Herzen verdankt: Das waren Verbundenheitsbezeugungen von Leuten, von denen ich das gar nicht erwartet hätte, und um so mehr waren sie mir sehr wertvoll. Aber irgendwann tauchte auch die Frage auf: Wollen mich alle diese so liebenswürdigen Menschen definitiv zu Hause einschliessen?
Das wollten sie natürlich nicht. Sondern sie wollten mir helfen, die Empfehlungen der Bundesamtes für Gesundheit einzuhalten, die ich persönlich auch sehr hochschätze. In dieser Situation habe ich mich mit den Empfehlungen des BAG näher auseinandergesetzt und habe herausgefunden, dass ich trotz allem einkaufen gehen darf. Nun versuche ich jeden Tag Kleinst-Einkäufe zu tätigen, um im Zwei-Meter-Abstand „unter die Leute“ zu kommen.
Also machte ich am Freitag Abend meinen kurzen Stadt-Spaziergang entlang der Limmat und in Seitengassen. Was konnte ich da beobachten? Überall – und im Abstand von mindestens 50 Metern von einem „Event“ zum nächsten – sitzen Paare oder Einzelpersonen, vor ihnen ein Getränk und/oder etwas zu essen. Einige haben ein Tüchlein ausgebreitet auf dem Mäuerchen, auf dem sie sitzen, gelegentlich steht da auch eine kleine Flasche Wein neben einem oder zwei Kunststoff-Gläsern.
Ich würde auf die Barrikaden gehen
Ich freue mich so sehr über diesen Anblick, dass ich ... ja, was tun? Ich bleibe stehen – in anstandsgemässer Entfernung, wobei das nicht der Corona-bedingte Abstand von 2 Metern ist, sondern die Notwendigkeit der Distanz zu einer intimen Zweisamkeit oder zu einer intimen Einsamkeit (auch das gibt es!) – und gebe zu erkennen, dass mich dieser Anblick freut. Sogleich würde ich weitergehen und mich entfernen, falls ich den Eindruck erhalten würde, meine Freude sei den Betreffenden lästig. Aber das geschieht nie so. Also wünscht man und frau sich „guten Appetit“ oder „einen schönen Abend“, und dies immer gegenseitig. Das Distanz-Gebot des Coronavirus scheint irgendwie eine neue Nähe zu ermöglichen, aber auf Distanz.
Warum erzähle ich dieses Erlebnis? Ich will nicht eingesperrt werden. Und deshalb würde ich auf die Barrikaden gehen, falls sich Anzeichen zu einer Tendenz in Richtung „Alte einschliessen – Junge freilassen“ abzeichnen würde. Nicht – wie in Deutschland – wegen der Verfassungsmässigkeit oder Nicht-Verfassungsmässigkeit einer solchen Tendenz. Nein, in der Schweiz ist das eine Frage der politischen Diskussion: Ein republikanisches Staatswesen – oder man könnte auch sagen: eine Gesellschaft – lebt davon, dass alle mitgenommen werden, die weniger Begüterten wie auch die Bessergestellten, die Gesünderen und die Kranken, die weniger und die mehr Gebildeten, aber auch die Jüngeren und die Älteren. Menschenwürde wird in der Schweiz weniger auf Verfassungsgarantien reduziert, weil die politische Kultur vermehrt auf politische Auseinandersetzungen abstellt als auf statisch feistgelegte Definitionen. Und das ist gut so.
Aber gerade deshalb würde ich auf die Barrikaden gehen, falls sich Anzeichen zu einer Tendenz in Richtung „Alte einschliessen – Junge freilassen“ abzeichnen würde. Übrigens würde ich dies auch deshalb tun, weil ein längeres „Einschliessen der Alten“ über kurz oder lang ein massives Ansteigen der Suizid-Raten unter den Alten zur Folge hätte. Und steigende Suizid-Raten in bestimmten Gruppen sind ein klares Indiz für Verletzung der individuellen Würde jener Menschen, die solchen Gruppen angehören.