Zwölf Jahre relativer Enthaltsamkeit haben ihren Machttrieb nicht verkümmern lassen. Nach der unerwarteten Schlappe bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 hatte es zwar vorübergehend so ausgesehen, als würde die durch unzählige Korruptionsaffären, übelste Vetternwirtschaft und einen autoritären Regierungsstil in Verruf geratene links-korporativistische Partei der Institutionellen Revolution (Partido de la Revolución Institucional/PRI) zerfallen. Doch die frühere Staatspartei, die zuvor sieben Jahrzehnte lang in Mexiko ausser dem Wetter praktisch alles bestimmt hatte, rappelte sich wieder auf, trotz wüsten internen Machtkämpfen und weit auseinander driftenden Vorstellungen über die künftige politische Stossrichtung.
Ein Favorit und viele noch Unentschiedene
Und jetzt ist die PRI auf dem besten Weg, auch das höchste Staatsamt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Um zur alten Stärke zurückfinden, hat sie auf einen jungen Bewerber gesetzt, den 45-jährigen Anwalt Enrique Peña Nieto. Der Ex-Gouverneur des Bundesstaates México ist in den Umfragen klarer Favorit. Auf seine nächste Rivalin, Josefina Vázquez Mota vom regierenden konservativ-katholischen Partido Acción Nacional (PAN), hat er einen Vorsprung von durchschnittlich 15 Prozentpunkten, und Andrés Manuel López Obrador von der Coalición Progresista um die linksgerichtete Partei der demokratischen Revolution (PRD) liegt in den Prognosen noch etwas deutlicher hinter Peña Nieto zurück.
Damit ist das Rennen allerdings nicht gelaufen, sind doch 40 Prozent der Wähler noch unschlüssig, wem sie am 1. Juli ihre Stimme geben werden. In Mexiko gewinnt auf Anhieb der Kandidat, der die höchste Stimmenzahl erreicht hat, auch wenn er die absolute Mehrheit verfehlt. Eine Stichwahl existiert nicht.
Der Mann ohne Kanten
Peña Nieto verdankt seine Spitzenposition in den Umfragen zu einem grossen Teil seiner Bildschirmpräsenz. Seit Jahren tritt der gut aussehende Politiker regelmässig beim Privatsender Televisa auf, dem grössten Medienunternehmen Mexikos, und präsentiert sich dort als das „junge Gesicht der neuen PRI“. Er scheut sich auch nicht, seine Ehe mit der bekannten Telenovela-Darstellerin Angélica Rivera medial zu instrumentalisieren und damit die eigene Popularität zu fördern.
Spontane inhaltliche Debatten liegen ihm weniger. Auch mit seiner Allgemeinbildung scheint es zu hapern. Als er auf der Buchmesse in Guadalajara gefragt wurde, welche drei Bücher für sein Leben eine besondere Rolle spielten, geriet er arg in Verlegenheit. Schliesslich nannte er die Bibel, brachte Autoren und Titel viel gelesener Bücher durcheinander, und konnte sich nur mit Hilfe des Publikums aus der peinlichen Situation retten.
Seine Gegner sahen sich nach diesem Fauxpas in ihrem Urteil bestätigt, dass er ein intellektuelles Leichtgewicht sei. "Geh lesen, Ignorant" verhöhnten ihn Studenten bei seinem Besuch in der Eliteuniversität Iberoamerica in Mexiko-Stadt. Kurz darauf veranstalteten Hochschulabsolventen eine Anti-PRI-Kundgebung im Zentrum der Hauptstadt und brachten so erstmals Farbe in den bis zu diesem Zeitpunkt ruhigen – um nicht zu sagen langweiligen – Wahlkampf. Sie protestierten dabei nicht nur lautstark gegen Peña Nieto und seine Partei, sondern auch gegen die Televisa und andere grosse private Fernsehketten, die sie der Manipulation andere beschuldigten.
Der PRI-Kandidat reagierte mit einem TV-Spot, in dem er beteuerte, er wolle auch der Präsident der jungen Leute sein, die ihn auspfiffen. Er hielt damit an seiner Strategie fest, nur nicht anzuecken und seinen Umfragevorsprung möglichst schadlos ins Ziel zu bringen.
Die Sehnsucht nach den alten Zeiten
Peña Nieto kann dem Wahltag auch deshalb zuversichtlich entgegensehen, weil seine Partei diesmal geschlossen auftritt; alle Gouverneure und tonangebenden Politiker der PRI unterstützen ihn. Die Politologin Rocío Bravo Salazar sieht im grossen Zuspruch für den Ex-Gouverneur "einen Beleg dafür, dass es der Partei gelungen ist, ihre Organisationsstrukturen wieder zu verbessern und ihre Kräfte um einen Kandidaten herum zu bündeln". Darüber hinaus, schreibt sie in einer Analyse für das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin, zeige sich darin "die Sehnsucht grosser Teile der mexikanischen Bevölkerung, zu den 'alten Zeiten' zurückzukehren, als der Drogenhandel 'unter Kontrolle' war und nicht derart viel Gewalt verursachte".
Der aufreibende Kampf gegen die Paten
Die Eskalation der Gewalt bereitet den Mexikanern neben der schwachen Wirtschaft, die weit weniger stark wächst als in anderen lateinamerikanischen Staaten, die grössten Sorgen. Der amtierende Staatschef Felipe Calderón hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt Ende 2006 eine Offensive gegen die organisierte Kriminalität eingeleitet und im Kampf gegen die Drogenbosse auch Militär aufgeboten.
Mexiko ist ein wichtiges Produktionsland von Schlafmohn, Marihuana und synthetischen Drogen sowie ein Transitland hauptsächlich für Kokain aus südamerikanischen Anbaugebieten in die USA und nach Kanada. Mit Grosseinsätzen von Polizei und Soldaten entlang der Drogenrouten gelang es, mächtige Paten dingfest zu machen und Rekordmengen an Rauschmitteln, Waffen und Drogengeldern zu beschlagnahmen. Zu einem hohen Preis: Die Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und der organisierten Kriminalität, vor allem aber die Kämpfe der Kartelle untereinander haben seit Anfang 2007 schätzungsweise 50 000 Menschenleben gekostet.
Die Frau mit dem schweren Erbe
Viele seiner Landsleute machen den abtretenden Präsidenten für die massive Zunahme der Gewalt verantwortlich. Der Vorwurf richtet sich indirekt auch gegen Josefina Vázquez Mota, die als seine Erbin angesehen wird, obwohl sie in den parteiinternen Vorwahlen nicht seine Favoritin war. Die Erfolgsaussichten der PAN-Kandidatin werden auch dadurch beeinträchtigt, dass ihre Partei die in sie gesetzten Erwartungen nach dem überraschenden Machtwechsel im Jahr 2000 nicht erfüllte. "Die PAN", stellt Bravo Salazar in ihrer Analyse fest, "hat leider die Chancen des Regierungswechsels nicht konsequent genutzt, und sie erwies sich zudem an der Macht als nicht weniger korrupt als die PRI, allerdings als weniger effizient."
Als erste weibliche Anwärterin auf das Präsidentenamt baut Vázquez Mota darauf, viele Stimmen von Frauen und Familien zu bekommen. Die frühere Bildungsministerin in der Regierung Calderón und Mutter von drei Kindern hat allerdings nicht klar zu erkennen gegeben, was von ihr im höchsten Staatsamt zu erwarten wäre. Die Universitätsprofessorin und Publizistin Denise Dresser hält die 51-jährige Ökonomin für eine fähige Politikerin, von der man aber nicht so recht wisse, was sie wolle. "Ihre Kandidatur ist ein Rock, der mit guten Absichten zugeknöpft ist", zitiert das Auslandsbüro Mexiko der Konrad-Adenauer-Stiftung die angesehene Politikwissenschaftlerin.
Der zweite Anlauf des Volkstribuns
Bereits zum zweiten Mal bewirbt sich Andrés Manuel López Obrador um die Präsidentschaft. 2006 hatte er nach einem leidenschaftlichen, auf Konfrontation angelegten Wahlkampf mit einem Rückstand von bloss 0,56 Prozentpunkten gegen Calderón verloren. Der charismatische Volkstribun beschuldigte darauf seinen politischen Gegner des - nie bewiesenen - Wahlbetrugs und rief schliesslich eine parallele "legitime Regierung" aus.
Bei seinem erneuten Anlauf gibt sich der Kandidat des Linksbündnisses wesentlich gemässigter und buhlt nun unter dem Schlagwort "Republik der Liebe" auch gezielt um Stimmen von Wählern der Mittel- und Oberschicht. Damit hat López Obrador seinen politischen Gegnern, die ihn vor sechs Jahren als Gefahr für Mexiko abstempelten, Wind aus den Segeln genommen. Gleichzeitig erweckte er jedoch bei einem Teil seiner Sympathisanten den Eindruck, ein "normaler" und damit weniger vertrauenswürdiger Politiker geworden zu sein.
Wichtigste Anliegen des ehemaligen Bürgermeisters von Mexiko-Stadt sind nach wie vor der Kampf gegen die Korruption und für mehr soziale Gerechtigkeit. Da ein Grossteil seiner Landsleute aber die akute Sicherheitskrise als schlimmstes Problem ansieht, ist es fraglich, ob er mit diesem Schwerpunktthema in dem von ihm und seinen Anhängern erhofften Ausmass bei den Wählern punkten kann.
Die Wahl des kleineren Übels
Wie er seine Wahlversprechen konkret umsetzen will, lässt López Obrador genau so offen wie seine Mitaspiranten auf die Präsidentschaft. Bei zentralen Themen wie der Sicherheits- oder der Wirtschaftspolitik bleiben alle drei Kandidaten mehr oder weniger unverbindlich. Einig sind sie sich darin, dass die Wirtschaft mindestens fünf Prozent jährlich wachsen sollte. Unterschiedliche Vorstellungen haben sie hingegen wie der für die mexikanische Wirtschaft ausserordentlich wichtige Energiesektor oder das Steuersystem reformiert werden müsste.
Die 40 Prozent der Wähler, die noch unentschieden sind, zeigen deutlich, dass viele Mexikaner sich für keine der drei grossen Parteien und ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin richtig erwärmen können. Der PRI von Peña-Nieto schreiben sie laut einer Umfrage Erfahrung, Stärke und Solidarität, aber auch Korruption, Egoismus und Betrug zu. Bei Vázquez Motas Regierungspartei PAN denken sie einerseits an Ordnung, Einheit, Vertrauen und Arbeit und andererseits an fehlende Verantwortung, Unfähigkeit und Egoismus. Die PRD von López Obrador kann Solidarität, Vertrauen und Arbeit als Pluspunkte für sich verbuchen, wird gleichzeitig jedoch mit den Attributen Unordnung, Uneinigkeit und Egoismus bedacht.
Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass - wie so oft in Lateinamerika - viele Wähler dem Kandidaten, den sie für das kleinere Übel halten, den Vorzug geben. Ein Staatsoberhaupt wählen, vom dem sie keine Wunder erhoffen, aber zumindest die Aussicht auf ein bisschen mehr Lebensqualität für sich und ihre Familien.