Das Buch trägt den Titel: «New World New Mind»* (Neue Welt, neuer Verstand). Jetzt müssen wir nur noch neu denken. Neu denken verbindet unsere Gedanken mit Zukunftsvorstellungen. Alt denken ankert in der Vergangenheit.
In den stillen Stunden zwischen Weihnachten und Neujahr lassen wir das alte Jahr gedanklich vorbeiziehen und mögen uns fragen, wie sich das neue wohl entfalten werde. Diese trägen Tage eignen sich vorzüglich, um – auch im hohen Alter – in jenes Schulfach einzutauchen, das es damals in unserer Jugend noch gar nicht gab. Leider gibt es dieses Fach auch heute noch nicht an unseren Schulen und Universitäten. Es heisst: «Neu denken».
Unser Denken mit dem Planeten versöhnen
Was ist gemeint? Neu denken verbindet unsere Gedanken mit Zukunftsvorstellungen. Alt denken ankert in der Vergangenheit. Wir müssen unser Gehirn mit der Welt in Einklang bringen – mit dem nötigen Respekt vor beidem. Zweifellos könnte unser Gehirn über das heutige moralische oder politische Handeln hinaus Gedanken und Kräfte entwickeln, die dringend notwendig wären, um uns Menschen, unsere Wirtschaft, unsere Zivilisation mit unserem Planeten zu versöhnen. Doch man hat sich mit seinen alten Gedanken gemütlich eingerichtet, um neu zu denken, muss man bequeme Pfade verlassen.
Wir können – wenn wir nur wollten – lernen, neu zu denken. Unschlagbar kurz und treffend formulierte Albert Einstein schon im letzten Jahrhundert die Voraussetzung dazu: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Wie wir – und ich meine damit Sie und mich, die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft – in den vergangenen hundert Jahren mit dem Planeten Erde umgegangen sind, ist kein Vorzeigeprojekt.
Wir erhalten heute die Quittung. Die Klimaerwärmung wird sicht- und spürbar. Jedes Jahr eindrücklicher, genauso wie es die Wissenschaftler seit über 30 Jahren prophezeiten und wir seither geloben, «etwas» dagegen zu unternehmen. Hand aufs Herz: Es ist uns kläglich misslungen. Wir berufen uns auf unsere Erfahrung, unser vergangenheitsgeprägtes Wissen oder, absolut unakzeptabel, leugnen die Fakten. Ein Bilderbuchbeispiel alten Denkens. Eine Denkweise, die wir entsorgen sollten.
Vorurteile entsorgen, eigene Meinung ändern
Neu denken kann erlernt werden. Die Autoren unseres Buches «NEW WORLD NEW MIND», Robert Ornstein (1942–2018), Psychologe und Hirnforscher, Autor von über 20 Fachbüchern, und Paul R. Ehrlich (*1932), Biologe und Bevölkerungsexperte, der über 800 wissenschaftliche Publikationen schrieb, sind sich durchaus bewusst, wie schwierig das in der Praxis ist. Sie sind bestens qualifiziert, uns Leitplanken vorzuschlagen.
Ihre Forschung über unsere sich rasend schnell verändernde Welt und das menschliche Verhalten, das dieses Tempo nicht mithält, ist zwar nicht brandneu, dafür geeignet, Jahrzehnte nachzuhallen. Wenn sie uns klarmachen, dass wir neu denken und neue Wege finden müssen, um unsere globalen Probleme zu lösen, rufen sie uns zuerst in Erinnerung, dass unsere Vorstellungen gar nicht so starr sind, wie wir gemeinhin denken.
Was hingegen zu einer gewaltigen Blockade gegenüber dem Neuen führt, sind unsere Vorurteile. Dass wir diese abbauen müssen, um toleranter zu werden, gilt als Vorbedingung. (Sir Peter Ustinov in «Achtung! Vorurteile»: «Ich zeichne gerne, während ich spreche. Das Vorurteil zeichne ich als verschlossene Tür. Denn Vorurteile sind Türen zu Zimmern, in die kein frisches Lüftchen dringt.») Mit anderen Worten: Mit unserem «alten Denken» reproduzieren wir oft Meinungen und Urteile, die längst überholt sind. Dieses Übels müssen wir uns bewusstwerden, um Platz zu schaffen für «neues Denken».
Gilt auch für ältere Menschen
Nicht nur unsere beiden Autoren, sondern auch Hirnforscher aus aller Welt (z. B. der Neuropsychologe Lutz Jäncke an der Uni Zürich – «Use it or lose it!») haben längst dargestellt, dass die Veränderungen des Gehirns nicht nur auf das jugendliche Gehirn beschränkt sind. Selbst im Alter kann sich die anatomische Struktur des erwachsenen Gehirns noch signifikant verändern. Auch und gerade für ältere Menschen sei es daher wichtig, neue Herausforderungen zu meistern und Neues zu lernen.
Solchermassen von bequemen Entschuldigungen befreit («Ich bin zu alt, um neu zu denken»), können wir bewusst daran gehen, unsere Meinungen systematisch infrage zu stellen. So wie unsere digitale Welt in den letzten Jahrzehnten Gewohnheiten und Gesetze obsolet werden liess, so ist es angebracht, unsere lieben (Vor-)Urteile kritisch zu hinterfragen. Dann sind wir bereit, neu zu starten.
Falsche Prioritäten, überholte Bilder
Unsere Medien sind nicht unschuldig daran, dass wir eine Tendenz entwickelt haben, uns auf kurzfristige, schrille Ereignisse zu konzentrieren und gleichzeitig die langfristigen, viel wichtigeren Trends und Probleme zu ignorieren. So, wenn Journalisten Plattitüden und «Mainstream» verbreiten und wir das «Blick/Tages-Anzeiger/NZZ-Wissen» gutgläubig nachplappern. Die Autoren nennen das eine typische «Altdenker-Gewohnheit». An deren Stelle sollten wir uns darin üben, «Neudenker-Analysen» zu entwickeln. Als Beispiel nennen sie Informationen über die langsamen Gefahren, welche die Menschheit bedrohen (z. B. Klimaerwärmung, Bevölkerungsexplosion). Es wäre wünschbar, unsere Medien fänden Wege, solche News bildlich darzustellen, quasi Brücken zu bauen, damit bisher ignorierte oder verdrängte Themen in unsere «Altdenker-Gewohnheit»-Basis eindringen könnten.
Die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass wir die menschliche Gedankenwelt neu beurteilen müssen. Diese Erkenntnisse beweisen zum ersten Mal, dass wir sozusagen die Standarddenkweise ausser Kraft setzen können. Dies gilt vor allem für die Politik, in der täglich nach alten Gewohnheiten debattiert, gekämpft wird – mit dem Resultat, dass dringend notwendige Gesetze vertrödelt oder ignoriert werden. Das gewohnte Bauchgefühl regiert über die neuen Anforderungen der Gegenwart.
Die falschen Ziele der Politik
Wenn unsere beiden Autoren auf die Rolle der Politik zu sprechen kommen, billigen sie ihr zu, dass ihre Exponenten auf Staatsebene laufend mit Problemen überschüttet werden, die (vermeintlich) sofort gelöst werden müssen. Doch gleichzeitig richtet sich ihr Zeithorizont auf die nächsten Wahlen, in der Schweiz zum Beispiel in einem Vierjahresintervall. Politikerinnen und Politiker haben infolgedessen wenig Veranlassung, sich langfristiger Trends anzunehmen, geschweige denn sich mit solchen zu identifizieren. Der Druck, den politische Parteien und Medien auf die Gestaltung der Traktandenliste der Regierungen ausüben, ist zugegebenermassen gross.
Ein weiterer Vorwurf an die globale Politikszene befasst sich mit dem offensichtlichen Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie (siehe Beitrag vom 30.08.2021). «Yet political leaders in both capitalist and socialist nations, […] all pray at the altar of perpetual economic growth without regard for its ultimate consequences.» (Die politischen Führungsfiguren in kapitalistischen und sozialistischen Nationen beten alle am Altar des ständigen ökonomischen Wachstums, ohne dessen Spätfolgen zu berücksichtigen.) Da kann man sich allerdings fragen, ob dies ein politisches Problem darstellt. Doch wer sonst sollte sich kritisch mit dieser Thematik auseinandersetzen, die doch alle Bereiche unserer Gegenwart betrifft?
Lichtblicke neuen Denkens
1. Beispiel: Seit einigen Jahren schiessen sie wie Pilze aus dem Boden: Die Coworking-Spaces, auch HUB genannt – Büros, in die man sich zeitlich flexibel einmietet und in denen Infrastruktur wie Internet, Drucker oder Sitzungsräume zur Verfügung stehen. Man arbeitet unabhängig voneinander, kann sich aber mit anderen Coworkern zu einer Community zusammenschliessen.
2. Beispiel: Start-ups sind Unternehmungsgründungen mit einer innovativen Geschäftsidee und hohem Wachstumspotenzial. Meistens stehen junge mutige Menschen dahinter, die ausgetretene Pfade verlassen und bereit sind, Risiko auf sich zu nehmen.
3. Beispiel: Bewusster Verzicht auf Besitz (weniger haben, dafür mehr sein), freiwillige Bescheidenheit. Auch das ist eine äusserst wirkungsvolle Variante neuen Denkens.
Neues Schulfach: Neu denken
Die Autoren schlagen uns einen «Lehrplan» vor, wie wir «neu Denken» schon früh in der Primarschule oder später im Studium oder Jahrzehnte später als weise Erwachsene lernen könnten. Es ist ihnen wichtig, dass wir realisieren, wie unser Verstand strukturiert ist und wie die angeborenen Beschränkungen des Geistes (z. B. Voreingenommenheit) zu überwinden sind. Dazu gehört auch die Feststellung, dass die berufliche Spezialisierung in der heutigen Welt zu einem eklatanten Verlust der Ganzheitlichkeit geführt hat.
Weil sich die Welt heute in einem Jahrzehnt stärker verändert als früher in 1000 Jahren, sollten wir als wichtigste Voraussetzung zur Kenntnis nehmen, dass das, was heute gelehrt wird, wahrscheinlich bald obsolet werden dürfte. Das Tempo dieser Veränderungen erhöht sich laufend, deshalb ihr Rat: «Adapting to change must be the center of any new kind of teaching.» (Die Anpassung an den Wandel muss im Zentrum jeder neuen Art von Unterricht stehen.) Das althergebrachte Auswendiglernen (z. B. von geschichtlichen Daten) sollte ersetzt werden durch ein Verständnis für die grossen Epochen und deren Entwicklungsschübe. Wichtig wird eine duale Gewichtung, hier die neuen Erkenntnisse, dort das Gesetz unserer Zeit: «Die einzige Konstante im Leben ist der ständige Wechsel.» («The only thing constant in life is change itself.»
Es ist aus Platzgründen nicht möglich, in diesem Beitrag weitere detaillierte Beispiele aufzuführen, die zu einem vertieften Verständnis für neues Denken führen werden. Es geht dabei auch um das Wissen über die Wurzeln der kulturellen Evolution und wie die menschliche Evolution und soziale Geschichte den menschlichen Verstand konditioniert haben. Insbesondere müsste das Basiswissen über Klima und Energie so gezeigt werden, dass die Bezüge zu unserem Alltag des 21. Jahrhunderts offensichtlich werden.
Ein besonderes Anliegen im neuen Lehrplan der Autoren ist die evolutionäre Biologie, die aufzeigen kann, dass Menschen, die den Ursprung ihres alten Denkens nicht realisieren, handikapiert sein werden, sich überhaupt mit dem Gebot des neuen Denkens auseinanderzusetzen.
Warum Weihnachtslektüre?
Für alle jene, die sich Gedanken darüber machen, woher die Menschheit gekommen ist und welche Verhaltenswechsel wir – Gesellschaft, Wirtschaft, Politik – machen müssen, um unsere Zukunft zu bewältigen, ist dieses Buch ein Weihnachtsgeschenk. Zwei grosse Humanisten weisen den Weg. Lesen, neu denken, handeln. Gutes Ziel für weihnachtliches Brain-storming Richtung neuen Denkens.
*Robert Ornstein/Paul Ehrlich: «NEW WORLD NEW MIND», 2018, Malor Books, 320 Seiten.