Wie fast überall auf der Welt hatte die Coronavirus-Pandemie auch in Israel längst alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt. Selbst die Auswirkungen der Parlamentswahlen vor drei Wochen schienen immer weniger zu interessieren: Der Führer des oppositionellen Parteienbündnisses „Blau-Weiss“, Benny Gantz, hatte den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten und man ging offenbar davon aus, dass dies seine Zeit in Anspruch nehmen würde.
Seltsame Volten – und „Blau-Weiss“ spaltet sich auf
Auch die dritte Wahl binnen eines Jahres hatte keinem der beiden grossen Blöcke – Rechtsparteien unter Netanjahu und Mitte-Links-Parteien unter Gantz – eine regierungsfähige Mehrheit gebracht und die beiden Lager hatten sich einen verbissenen Wahlkampf geliefert, der von Seiten der Rechten oft unter der Gürtellinie geführt wurde.
Umso überraschender kam dann aber eine Entwicklung in der Knesset, dem israelischen Parlament: „Blau-Weiss“ hatte durchgesetzt, dass ein von Netanjahu eingesetzter Vorsitzender zurücktreten und ein Nachfolger gewählt werden musste. Der aber war zu aller Überraschung Benny Gantz. Und das mit Stimmen von dessen „Blau-Weiss“ wie auch des rechten „Likud“. Gleichzeitig wurde bekannt, dass „Blau-Weiss“ sich aufspalte, weil drei der vier Parteiteile Gantz nicht dorthin folgen wollen, wo er hinsteuere: Auf eine Koalition mit dem Netanjahu-Block.
Verwunderte und verärgerte Reaktionen
So hatte sich in Israel wohl niemand die Regierungsbildung nach den Wahlen vom 2. März vorgestellt. Schon gar nicht unter den politischen Hauptakteuren um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Oppositionsführer Benny Gantz. Andere Kreise hatten immer wieder vorgeschlagen, eine große Koalition zu bilden, um die aussen- und sicherheitspolitischen Probleme des Landes endlich einer Lösung näher zu bringen, aber die Fronten schienen klar: Gantz wiederholte immer wieder, was er seit Beginn seiner politischen Karriere Ende 2018 verkündet hatte: Sein Ziel sei ein Ende der Regierungszeit Netanyahus.
Und nun will er mit Netanjahu regieren?
Mit Rotation nach anderthalb Jahren? Die Reaktionen reichten von verwundert bis verärgert. Besonders Letzteres: Offenbar habe man sich von Gantz etwas vormachen lassen, er habe seine Wähler betrogen. Etwas zurückhaltender formulierten es Kommentatoren, Gantz habe offensichtlich unter den ständigen Anfeindungen von rechts zu sehr gelitten, dass er nun aufgegeben habe.
Ende der Karriere von Gantz?
Gantz selbst spricht davon, dass die Herausforderungen, denen das Land durch die Viren-Attacke ausgesetzt sei, ein politisches Zusammengehen der wichtigsten Parteien erforderlich mache.
Wie auch immer: Jetzt muss er erst einmal seinen Auftrag zur Regierungsbildung zurückgeben und Netanjahu muss damit beauftragt werden. Allein dies könnte schon der letzte Nagel zum Sarg der politischen Laufbahn von Gantz werden: Wer kann denn Netanjahu zu dem jetzt verkündeten Rotations-Plan verpflichten?
Aus „Bibi“ könnte „König Bibi“ geworden sein, dem es hiermit gelungen ist, den einzigen ernsthaften Widersacher – „Blau-Weiss“ – zu zerschlagen oder irrelevant zu machen. Netanjahus selbstherrliche Art zu regieren wird kaum noch zu bremsen sein. Vermutlich nicht durch den ihm drohenden (und auf sein Betreiben verschobenen) Korruptionsprozess, erst recht nicht durch die vermeintliche Alternative, die hier und da genannt wird: Noch einmal Neuwahlen – zum vierten Mal in anderthalb Jahren.
Coronavirus herrscht auch in Israel
Netanjahu wird also weiterhin im Amt bleiben. Wirklich etwas „gewinnen“ kann er damit allerdings kaum. Schon allein deswegen nicht, weil seine Macht gegenüber dem grössten Gegner dieser Tage – dem Coronavirus – ebenso begrenzt sein dürfte wie die weitaus mächtigerer Politiker anderswo auf der Welt.