Wenn ich früher in Kathmandu landete, war ich jeweils erstaunt über das Fehlen von Slums, diesem Willkommensgruss südasiatischer Grossstädte wie Bombay. Unter mir lagen Reisfelder, schmucke Dörfer – meist entlang eines Hügelkamms – und am Horizont die Berge des Himalaja.
Wohnen in Rohbauten
Im Laufe der Jahre und mit der Globalisierung von Arbeit und Tourismus veränderte sich die Landschaft. Aber es gab immer noch keine dieser armseligen Hüttensiedlungen. Noch heute findet sich nur ein wirklicher Slum in der nepalischen Hauptstadt, der wegen seiner Nähe zum Bus-Terminal einfach New Bus Depot heisst. Kathmandu bleibt ein Migrationsmagnet. Aber es bietet praktisch nur Dienstleistungsjobs an und keine Fabriken. Vielleicht ist dies der Grund, warum sich die meisten Ankömmlinge in den Nischen und Ritzen der Wohnquartiere einnisten.
Was sich allerdings verändert hat, sind die Dörfer über der Anflugschneise. Sie stehen alle noch, aber das Bild kompakter Siedlungen ist aufgerissen von Betonpfeilern und –plattformen. Viele von ihnen sind nur dies – mehrstöckige Häuserschalen. Je mehr sich das Flugzeug im Sinkflug der Stadt nähert, desto häufiger sind die leeren Zementwürfel ausgefüllt mit unverputzten Mauern und abgedeckt mit Blechdächern. In vielen wird gewohnt, obwohl es noch Rohbauten sind. Es ist ein typisches Zeichen dafür, dass keine Baubewilligung und keine Nutzungserlaubnis vorliegen.
Toxische Mischung
In den Tagen nach dem Erdbeben vom 25. April wiederholten viele Zeitungskommentare einmal mehr diese alte Einsicht: Nicht Erdbeben töten Menschen, Gebäude tun es. In einem ähnlichen Sinn äusserte sich im Indian Express ein japanischer Tourist, der das Beben überlebt hatte: „Eine Erdbebenstärke von 7.8 auf der Richter-Skala würde in Japan keinen einzigen Todesfall verursachen“.
Das alte Lied also: Auch Erdbeben sind weitgehend menschengemachte Katastrophen. Sie werden ‚toxisch’ wegen des Gemischs von Armut, Schlendrian, Korruption, und der mangelnden Durchsetzung des Rechts. Als ich vor einigen Jahren mit Freunden aus der Schweiz in Kathmandu das Schulhausprojekt einer NGO anschaute, sahen wir einen fast fertiggestellten Betonbau, bei dem die Arbeiten unterbrochen waren, weil sich die NGO weigerte, Schmiergelder zu bezahlen.
Gefährlicher Untergrund
Es sind nicht fehlende Bauvorschriften, die diesen Cocktail zusammenbrauen. Nepal hat, wie andere Anrainerstaaten entlang der Himalajakette, genügend schwere Erdbeben erlitten, um zu wissen, dass sich das Kathmandu-Tal auf labilem Untergrund befindet. Geologen nehmen an, dass es in prähistorischer Zeit ein See war. Und die Fruchtbarkeit des Tals ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Stadt auf Schwemmland gebaut ist. Es ist eine gefährliche Kombination: Ein breites dichtbevölkertes Tal, das in einer kontinentalen geologischen Formation liegt, in der uralte tektonische Platten weiterhin kollidieren und sich aufbäumen.
Das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes, am Kreuzungspunkt von zwei grossen Handelsrouten gelegen, ist auch die Hauptstadt eines überaus armen Landes. Entwicklungshelfer nannten Kathmandu früher ‚Aid City’ - und die unterschwellige Anspielung auf ‚Sin City’ war bewusst gewählt. Nepal war das Land, dem jedes reiche Land Geld fast buchstäblich nachwarf, so schön war die Landschaft, so beliebt waren seine Bauern und so gross deren Armut.
Seismisches Risikoprofil
Vieles von dieser Entwicklungszusammenarbeit erwies sich im Nachhinein als fragwürdig, aber es gab auch sinnvolle Hilfe. Dazu gehören etwa die Hängebrücken, welche die Schweiz baute und die sich bis heute als weitgehend erdbebensicher erwiesen haben. Aber es war Neuseeland, das die wohl unspektakulärste Entwicklungshilfe bot: Es half dem Land zu Beginn der neunziger Jahre, ein seismisches Risikoprofil zu erstellen, und auf dieser Basis dem Staat zu helfen, Vorschriften für erdbebensicheres Bauen zu erlassen.
Wie so vieles in einem Staat mit wackligen Institutionen wurde auch dieser wissenschaftlich fundierte Building Code bald einmal Makulatur; er war das Feigenblatt, hinter dem sich (wie überall auf der Welt, wo es um Land geht) eine Schmiergeldindustrie einrichtete. Dennoch blieb das Projekt nicht ohne positive Folgen. Die Ausbildung einer Reihe von lokalen Experten mündete in einer NGO namens National Society for Earthquake Technology. Es gelang ihr, zumindest in staatlichen Projekten – städtischen Schulen und Spitälern namentlich – einigermassen erdbebensichere Gebäude durchzusetzen.
Das Unglück am Feiertag
Das jüngste Erdbeben lieferte den Beweis: Ein Grossteil dieser Bauten hielt ihm stand. Das Datum sorgte allerdings für das schmerzhafte Paradox, dass sie ihre wichtigste Funktion – das Leben von Kindern und von Kranken zu schützen – nur teilweise erfüllen konnten. Die Erde bebte am 25. April, einem schulfreien Samstagmittag. Wären die Kinder in der Schule gewesen, hätten vielleicht viel mehr überlebt.
Das Gegenteil ereignete sich beim Erdbeben von Gujerat 2001. Es traf den Staat am 26. Januar, dem Indiens Republic Day. An diesem Feiertag nahmen die Kinder traditionsgemäss an der morgendlichen Feier in ihrer Schule teil. Im Unterschied zu Nepal waren die meisten Schulen in der ländlichen Bhuj-Region nicht erdbebensicher gebaut, und viele Kinder starben, während ihre Eltern in den Hütten zuhause überlebten.
Die kommende Katastrophe
Der Zufall will es, dass der Mann, der erst vor kurzem zum Chef der Kathmandu Valley Development Authority (KVDA) berufen worden war, ein Gründungsmitglied der Earthquake Technology-NGO ist. Als solcher ist Yogeshwar Paranjuli auch zuständig für die Baubehörde. Wenn es jemandem gelingen kann, diese zu einer Baupolizei mit sauberer Weste zu trimmen, dann er. Doch ist dies nicht too little too late? Gewiss, denn das grosse Leid der Zerstörung ganzer Familien, von Hab und Gut ganzer Gemeinschaften lässt sich nicht ungeschehen machen. Nepal ist nicht ‚noch einmal davongekommen’.
Dennoch ist dies – bezogen auf das ganze Land und die Himalajaregion – der Tenor vieler Kommentare von Erdbebenspezialisten im In- und Ausland, bezogen nicht auf die tragischen Opfer, sondern auf das ganze Land. Dies sei nicht The Big One, liess sich aus Neuseeland auch Richard Sharpe vernehmen, einer der Experten des Entwicklungsprojekts von damals. Die Analyse der physikalischen Stress-Daten lasse ein katastrophales Beben erwarten, entlang der gesamten tektonischen Verwerfungslinie der Himalajakette, vom indischen Assam bis zum Hindukusch in Afghanistan. Sie zeigten einen ständigen Aufbau der Spannungen innerhalb mehrerer ineinander verzahnter gegenläufiger Platten, und diese würden sich eines schrecklichen Tages entladen.
Falsche Interpretation
Insofern ist das jüngste Beben tatsächlich ein Alarm, weit über das Kathmandutal und Nepal hinaus. Es hat diese regionale Ausdehnung selber deutlich unterstrichen: Die Erschütterungen liefen bis in Grossstädte wie Lahore, Delhi, Kolkata und Dhaka. In Indien gab es noch fünf Tage nach der grossen Entladung Tote zu beklagen; und die Nachbeben halten an. Hat Nepal ein Bauernopfer geleistet, damit das Spiel gegen die Natur vielleicht doch noch zu gewinnen ist?
Doch werden die Nachbeben auch als Vorboten erkannt werden? Und werden sie die Staaten bis in ihre bürokratischen Knochengerüste hinein aufrütteln? Der Schlendrian ist tief verwurzelt. Ich erinnere mich an das Erdbeben in der Garhwal-Region in Nordindien vom Oktober 1991, das uns in New Delhi frühmorgens aus dem Bett holte. Später stellte sich heraus, dass ein Seismograf ganz in der Nähe des Epizentrums installiert gewesen war. Mehrere Tage vor der Eruption stellte ein Beamter bei einer Routinekontrolle auf dem Schreiber zahlreiche Ausschläge fest. Er dachte, dass die Apparatur defekt war und stellte sie ab.