Ein Ausflug in den Nenzinger Himmel erinnert an Grossmutter Frida, Ärztin, und ihre Freundin Hedwig, Malerin, welche vor über 120 Jahren als unabhängige Frauen ihrer Zeit weit voraus gewesen waren.
Ich hätte sie gerne einmal selber getroffen, die zwei jungen Frauen Hedwig und Frida, kaum zwanzig Jahre alt, welche sich Ende des 19. Jahrhunderts natürlich «Fräulein» nannten, wie sie vom vorarlbergischen Nenzing, das auf halbem Weg zwischen Feldkirch und Bludenz liegt, auf dem schmalen Weg hoch über der Schlucht ins Gamperdonatal gewandert – nein: gespurtet – sind, mit Rucksäcken voller Bücher und Malutensilien. Sie hätten die 16 Kilometer und 800 Höhenmeter bis in den Nenzinger Himmel jeweils in drei Stunden geschafft, wo man sonst mit ein bis zwei Stunden mehr rechnete, liest man in Briefen von Zeitgenossen.
So stelle ich sie mir jedenfalls vor, die beiden Freundinnen, welche sich seit der Primarschule kennen. Hedwig Scherrer (1878–1940) war die einzige Tochter des Ehepaars Joseph und Philippine Scherrer-Füllemann. Der Vater Joseph (1847–1924), St. Galler Regierungsrat und für die Partei der Demokraten Mitglied des Nationalrates, setzte sich während und nach dem Ersten Weltkrieg für die internationale Friedensbewegung und für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund ein. Er besass im Nenzinger Himmel im Gamperdonatal ein Jagdhaus, das er und seine Familie regelmässig besuchten, zu Fuss von Nenzingen her, später auch vom liechtensteinischen Malbun über das Sareiserjoch.
Hedwig Scherrer muss – ohne das Wort Feministin schon zu kennen – in ihrer Unabhängigkeit ihrer Zeit weit voraus gewesen sein. Sie war bereits Mitglied des Schweizer Alpenclubs, bestieg allein, mit Freundinnen und Freunden oder mit Schulkindern vom Gamperdonatal aus diverse Berge, so mindestens zwanzig Mal die Schesaplana an der Grenze zum Prättigau, und wurde von ihren fortschrittlichen Eltern in ihrem Bestreben Malerin zu werden, tatkräftig unterstützt. Mit 16 Jahren trat sie in die Zeichenschule des Gewerbemuseums St. Gallen ein, ab 1896 folgte die Ausbildung als freischaffende Künstlerin an der Damenakademie des Münchner Künstlerinnenvereins. Später baute sie sich in Montlingen im St. Galler Rheintal ein Atelierhaus, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1940 als unabhängige und angesehene Künstlerin geachtet und auch sozial tätig war.
Es gab damals in St. Gallen unter Hedwigs gleichaltrigen Schülerinnen eine Wesensverwandte, Frida Kaiser (1877–1962), die spätere Frida Imboden-Kaiser. Ihr Vater Adolf Kaiser, Rektor der Kantonsschule St. Gallen und später ebenfalls Regierungsrat, ermöglichte seiner Tochter als einem der ersten Mädchen den Besuch «seiner» Kantonsschule. Später studierte Frida in Bern und Genf Medizin und erwarb 1905 den Doktortitel. Im Jahre 1909 gründete sie in St. Gallen ein Säuglingsheim, aus dem später das Ostschweizer Kinderspital entstand (1).
Die beiden Freudinnen Frida und Hedwig setzten sich für die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen und für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse ein. Sie waren naturverbunden, sportlich und schworen sich gegenseitig, nie zu heiraten. Hedwig hielt sich daran, wenn vielleicht auch nicht ganz freiwillig, denn ihre grosse Liebe scheiterte. Frida hingegen heiratete 1913, bereits 36 Jahre alt, doch noch, nämlich den Berner Psychiater Karl Imboden, was sich für den Autor dieses Beitrages als nicht ganz unwichtig herausstellen sollte. Frida und Karl hatten zusammen drei Kinder, darunter meinen Vater Max. Vielleicht war es als Beschwichtigung für das gebrochene Versprechen ihrer Freundin gegenüber gedacht, dass Hedwig Gotte von Max wurde.
Im Nachlass meiner Eltern fanden sich einige Werke von Hedwig Scherrer, darunter zwei von ihr verfasste, bebilderte und von Hand geschriebene Märchenbücher für meinen Vater, deren Originale sich heute in der Kantonsbibliothek Vadiana in St. Gallen befinden (2). Doch weit mehr als diese Bücher hatten mich als Kind die Erzählungen meiner Grossmutter Frida über das geheimnisvolle Jagdhaus im Nenzinger Himmel fasziniert. Meine Fantasie wurde zusätzlich durch Hedwig Scherrers wunderbare Landschaftsbilder angeregt, welche in meinem Elternhaus hingen: Ein himmlisches Tal, das nur erreicht, wer die Mühsal eines langen Marsches auf sich nimmt, wo das Böse keinen Platz hat und wo sogar Jäger und Wild einen heiligen Pakt geschlossen zu haben scheinen. – Schliesslich war Joseph Scherrer ein Friedensaktivist gewesen.
Inneren Bildern droht nur eine Gefahr, nämlich eines Tages durch die Wirklichkeit entthront zu werden. Manchmal ist es daher besser, sie – die inneren Bilder – unangetastet zu lassen. Trotzdem habe ich es in diesem Herbst gewagt und den Himmel besucht, wenigstens den Nenzinger. Es sei vorab verraten: Der Himmel hat die Prüfung weitgehend schadlos überstanden. Über die unvermeidlichen Abstriche gleich mehr.
Eine kleine Gruppe von aktiven und ehemaligen Ratsmitgliedern der Hedwig Scherrer Stiftung besuchte auf Initiative ihres Biografen und Kurators Peter Zünd diesen Herbst den Nenzinger Himmel. Meine Frau und ich durften als Gäste an diesem Ausflug teilnehmen. Treffpunkt war die Basis des Kleinbusunternehmens «Lisi&Friedl» an der Schwedenstrasse in Nenzing. Zwischen Einfamilienhäusern versteckt stehen auf dem Parkplatz des Unternehmens einige rote und gelbe Kleinbusse. Ali, der Fahrer des für die Fahrt vorgesehenen Busses, las von einem von Hand beschrifteten Zettel die Namen der «Auserwählten» ab. Wer sich nicht rechtzeitig angemeldet hatte, musste warten, denn die 24 Plätze waren im Nu voll. Für eine junge Frau – wir trafen sie später wieder im Gasthof Gamperdona als Serviererin – stellte Ali schliesslich noch einen Plastikhocker zwischen die Sitzreihen. «Wir sind keine Bürokraten im Voralberg», sagte Ali beschwichtigend.
Und dann ging’s los. Der Fahrer amtete gleichzeitig als Reiseführer. Mehr als zweihundert Kurven (ich habe die genaue Zahl vergessen) würden uns erwarten. Die Strasse dürfe nur von Hausbesitzern im Tal befahren werden, und solcher könne nur sein, wer Nenzinger Bürger sei. – Andere Zeiten als vor über 120 Jahren, als die St. Galler Notablen im Gamperdonatal ihre Jagdhütten hatten! – Auch für Velofahrer sei die äusserst schmale und teilweise sehr exponierte Strasse verboten. Sie gehöre übrigens der Alpgenossenschaft und werde von ihr unterhalten. Tatsächlich: Unterhalt wird hier gross geschrieben: nach jedem stärkeren Regenfall – das heisst jährlich mehrmals – wird die Strasse von Gesteinslawinen verschüttet, welche sich in den aus Schottergesteinen gebildeten Hängen lösen. Die Topografie des engen Tales und der Verlauf der Seitenbäche würden sich ständig ändern, erklärt Ali. Er versteht es durchaus – wie erfahrene Zirkusakrobaten – mit seiner Fahrkunst beim Publikum Bewunderung zu wecken. Wir passieren einen kurzen Tunnel, dessen Profil für einen grösseren Bus oder einen LKW, die wegen des Alpbetriebes manchmal ins Tal fahren, zu eng ist, so dass diese Fahrzeuge auf einer Waldstrasse einen Umweg über den Nenzinger Berg machen müssen und weiter hinten wieder auf die Talstrasse stossen.
Nach etwa zehn Kilometern öffnet sich das Tal, und nach weiteren sechs Kilometern erreichen wir die Talmulde des Nenzinger Himmels, wo die Nenzinger in den letzten fünfzig Jahren von ihrem Baurecht rege Gebrauch gemacht haben. Der EU sei Dank: Als sich vor einigen Jahren die Anzahl der Häuser im Tal der magischen Zahl zweihundert näherte, zogen Gemeinde und Liegenschaftsbesitzer die Reissleine, weil ansonsten, so Ali, grosse bauliche Investitionen nötig geworden wären. Ich verstand zwar Alis Erklärungen nur halb, vermute aber, dass die EU für Siedlungen mit mehr als zweihundert Gebäuden ein Kanalisationssystem und eine zentrale Kläranlage verlangt.
Ankunft des roten Busses vor dem Alpengasthof (1370 m ü. M.). Wir wandern als erstes zur Häusergruppe nördlich der Wallfahrtskapelle St. Rochus. Dort steht das berühmte Jagdhaus, in dem Hedwig und Frida vor mehr als 120 Jahren weibliche Unabhängigkeit zelebriert hatten. Eigentlich hatte ich mir die Hütte romantischer und einsamer vorgestellt, nahe am «finsteren Wald» – soviel über die Entthronung der Träume durch die Wirklichkeit! Die Jagdhütte ist von Joseph Scherrer aus einer ehemaligen Alphütte umgebaut worden und immer schon Teil einer kleinen Häusergruppe gewesen.
Über die Alpwiese gehen wir die wenigen Schritte zur Wallfahrtskapelle. Im Osten ragt – frisch verschneit – der Panüeler Kopf (2859 m) in den Himmel, im Süden, hinter dem Stüber Fall, die Felsen des Naafkopfs. Die durch die zwei Seitentäler gebildete Geländemulde des Nenzinger Himmels hat wahrscheinlich dem Gamperdonatal den Namen gegeben: Campus Rotundus, rundes Feld, woraus Gamperdond entstand, eine ältere Bezeichnung für das Tal. Die Kapelle ist dem heiligen Rochus gewidmet, dem Beschützer vor der Pest. Der Name lässt vermuten, dass das abgeschiedene Tal immer wieder Menschen Zuflucht gewesen war, welche sich vor der Pest schützen wollten – wie schon jene in Boccaccios Decamerone verewigten jungen Menschen, welche 1348 von der Pest in Florenz Reissaus genommen hatten.
Wir lauschten allerdings in der Kirche nicht Boccaccios Geschichten, welche es in die Weltliteratur geschafft hatten. Vreni Zünd las uns Briefe von Hedwig Scherrer vor, darunter einen an meine Grossmutter Frida, in dem Hedwig in dramatischen Formulierungen ihrer Freundin eine Besteigung der Schesaplana, einen plötzlichen Wetterumsturz und die Suche im Nebel nach dem richtigen Weg beschreibt.
Während der Lesung erschienen immer wieder Leute an der Türe der kleinen Kirche. Einige wichen erschreckt zurück, als sie jemanden vorlesen hörten, andere liessen es sich nicht nehmen, gingen zum Altar, zündeten eine Kerze an, blieben einen Moment sinnend stehen und gingen wieder. – Wenn sie es geahnt hätten, Hedwig und Frida, die nicht sehr religiösen jungen Frauen, dass sie je Stoff für eine private Andacht in der Rochus Kapelle werden würden.
Später gab es ein üppiges Mittagessen im Alpengasthof und einen Gang hinauf zum Stüber Fall, der uns ins Schwitzen brachte und half, die Kalorien des Älplermahls zu verarbeiten.
Für die der Rückfahrt ins Tal hatten Lisi&Friedl drei Busse bereitgestellt. Alle waren voll, und auch die Notsitze traten erneut in Funktion. Uns fuhr wieder Ali. Er blieb nach der beredten Hinfahrt auffallend still, was wahrscheinlich von allen müden Wanderern als Wohltat empfunden wurde. Als ich auf meinem Handy die Fotos des Tages betrachtete, schienen sie mit Hedwigs Gemälden zu verschmelzen, die in meinem Elternhaus hingen und mit denen ich aufgewachsen war. Für einen Moment war es mir gar, als ob ich die beiden jungen Frauen auf dem Weg in ihren Himmel schwatzen und lachen hörte.
(1) Siehe den Beitrag vom 08.02.2019 Grossmutterstadt
(2) Das Märchen vom Strom. Faksimile. Hedwig Scherrer-Verlag, Oberriet 2004; und Das Märchen von den sechs Brüdern. Faksimile. Hedwig Scherrer-Verlag, Oberriet 2011.