Alles stand bis vor Kurzem im Schatten der Abstimmung über das Covid-Gesetz, so auch das Referendum zur sogenannten «Widerspruchslösung». Im Hinblick auf Transplantationen sollen Organentnahmen künftig möglich sein, wenn man nicht ausdrücklich widerspricht. Die Referendumsfrist läuft im Januar ab.
Bisher musste man einer Organentnahme ausdrücklich zugestimmt haben, es galt also die Einwilligungslösung. Die Revision des Transplantationsgesetzes, gegen die das Referendum ergriffen worden ist, sieht nun den Übergang von der Einwilligungslösung zur Widerspruchslösung vor: Die Organentnahme soll bereits dann zulässig sein, wenn man nicht ausdrücklich dagegen widersprochen hat. Das Gesetz sieht vor, dass man sich in ein Register eintragen muss, wenn man die Organentnahme verhindern will.
Geht das? Nein, es geht nicht. Es kann doch nicht sein, dass meine körperliche Integrität vom Staat nur dann respektiert wird, wenn ich mich zuvor durch einen Registereintrag darum beworben habe. Freiheitsrechte muss man nirgends anmelden. Um wieviel mehr muss das für die Würde des Menschen gelten, auch für die Würde des toten Menschen. Und es geht sogar noch weiter: Ob ich ein Würdeverständnis habe, das sich nicht nur auf meinen lebenden, sondern auch auf meinen toten Körper erstreckt, entscheide ich selber. Das hat nicht der Staat zu entscheiden.
Der Totenfrieden
Warum gibt es denn im Schweizer Strafgesetzbuch einen Artikel 262 mit dem Titel «Störung des Totenfriedens»? Natürlich ist das Strafgesetz auf eine gesetzlich geregelte Organentnahme nicht anwendbar. Aber dass es diesen Artikel überhaupt gibt, zeigt doch, dass der Gesetzgeber auch dem Toten eine Würde zugeschrieben hat, die geschützt werden muss. Dafür wird sogar das Strafrecht zu Hilfe genommen, was dieser Würde einen besonderen Stellenwert einräumt. Der Artikel des Strafgesetzbuches schützt nicht nur Friedhöfe und Leichenzüge vor Störung oder «Verunehrung», sondern auch die öffentliche Beschimpfung eines Leichnams wird bestraft. Und das Stehlen von Asche oder Leichenteilen natürlich auch.
Als die Griechen Troja eroberten, tötete der Grieche Achilles den gegnerischen Hektor. Dieser hatte lange zuvor im Kampf den Griechen Patroklos getötet, einen Freund und Verwandten von Achilles. Und was machte Achilles mit dem Leichnam des trojanischen Königssohns? Um die Trojaner in ihrem Innersten zu verletzen, band er den Leichnam des Hektor an seinen Kampfwagen und schleifte ihn volle zwölf Tage lang um das Grab des Patroklos herum. Das ist nur durch ein Epos überliefert, und es ist unklar, ob es sich vor mehr als 3000 Jahren wirklich so zugetragen habe. Aber die epische Überlieferung macht mehr als deutlich, was mit der Würde der Toten letztlich gemeint ist.
Die Angehörigen
Zurück zur Aktualität. Natürlich gab es Widerstände gegen diese Revision des Transplantationsgesetzes, vor allem aus kirchlichen Kreisen und von verschiedenen Ethik-Kommissionen. Man sah deshalb vor, dass die nächsten Angehörigen der Organentnahme widersprechen können, wenn sich der Verstorbene nicht geäussert hat. Beigefügt wurde, dass die Angehörigen dabei den vermutlichen Willen des Verstorbenen zu beachten hätten. In solchen Fällen sollen die Angehörigen Vermutungen anstellen, und Vermutungen Anstellen braucht ziemlich viel Bedenkzeit.
Also stelle man sich die konkrete Situation vor: Nachdem sich die Angehörigen am Bett des Sterbenden neben allen immer noch tickenden lebenserhaltenden Maschinen entschieden haben, ihre Zustimmung zum Abschalten dieser Maschinen zu geben, werden sie gebeten, sich zum mutmasslichen Willen des Sterbenden über eine Organentnahme zu äussern. Noch vor dem Abschalten der Geräte müssen also die Angehörigen zur Organentnahme Ja oder Nein sagen, denn eine Organentnahme ist nur aus dem noch warmen Körper möglich und nicht aus dem schon erkalteten. Eine solche Situation ist den Angehörigen schlicht nicht zumutbar.
Rechtlich kompliziert wird es, wenn nächste Angehörige gar nicht auffindbar sind. Falls der Wille des Sterbenden über eine Organentnahme nicht durch eine Erklärung von ihm selber klargestellt wurde, ist die Organentnahme in einem solchen Falle unzulässig. So steht es in Absatz 3 von Artikel 8 des revidierten Gesetzes. Dabei liegt die Krux im Detail und in der Vorgeschichte dieses Details.
Ungereimtheiten im revidierten Gesetz
Ein früherer Entwurf zur Revision des Gesetzes legte fest, die Entnahme sei «zulässig», wenn der Wille der Person nicht eruierbar und nächste Angehörige nicht erreichbar seien. Diese Regelung wurde kritisiert, vor allem in Hinblick auf Asylsuchende, Sans Papiers und andere vulnerable Gruppen wie ältere Personen ohne nächste Angehörige. Auch zugunsten weiterer Gruppen ersetzte der Bundesrat in Absatz 3 von Artikel 8 den Begriff «zulässig» kurzerhand durch «unzulässig». *) So weit so gut. Dies soll immerhin verhindern, dass jeder Obdachlose ohne Angehörige unfreiwillig zum Organ-«Spender» werden könnte.
Es gibt aber auch einen Artikel 61 über die Informationspflicht. Eine solche wäre natürlich nötig, denn würde die Revision in Kraft treten, würde Nicht-Wissen nicht mehr vor ungewollten Organentnahmen schützen. Der zweite Absatz dieses Artikels legt fest, worüber informiert werden muss. Darunter fällt zunächst, dass man überhaupt widersprechen müsse, und dann wörtlich: der «... Hinweis, dass ohne Widerspruch der spendenden Person oder ihrer nächsten Angehörigen die Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen und vorbereitende medizinische Massnahmen zulässig sind». Kein Wort mehr davon, dass die Organentnahme auch dann unzulässig sei, wenn keine Angehörigen erreichbar sind.
Hat man nach der Anpassung von Artikel 8 (Ersetzung von «zulässig» durch «unzulässig») schlicht vergessen, den Artikel 61 ebenfalls entsprechend zu ergänzen? Oder war dieser Widerspruch vom Bundesrat gewollt? Letzteres kann man nicht völlig ausschliessen, angesichts der Möglichkeiten, die dem Bundesrat in solchen Fällen offenstehen. Die Ungereimtheit könnte nämlich zur Folge haben, dass sich eine Praxis einbürgert, wonach Organentnahme auch bei fehlender Erreichbarkeit von Angehörigen dennoch stattfindet. Dies wäre dann der Fall, wenn der Bundesrat bei Erlass der entsprechenden Ausführungsverordnung argumentieren würde, der Sinn des Gesetzes sei der Übergang von der Einwilligungslösung zur Widerspruchslösung, und deshalb seien Ungereimtheiten im Gesetz in diesem Sinne aufzulösen. Juristisch gesehen ist das eine durchaus zulässige Auslegungsmethode.
Solche Widersprüche in Gesetzesvorlagen müssten vom Gesetzgeber in den Beratungen eigentlich entdeckt und bereinigt werden. Warum blieb die Ungereimtheit bestehen, fragt man sich. Und es bleibt die vage Vermutung, das Parlament habe dieses Geschäft nicht so ernst genommen, wie es angesichts der Tragweite und dem Zusammenhang mit der Menschenwürde angebracht gewesen wäre.
Eine Frage der Menschenwürde
Eigentlich stellt diese Revision des Transplantationsgesetzte die Einführung einer Organspende-Pflicht dar, auch wenn das so nicht im Gesetz steht. Reden wir Klartext: Wer diesen Beitrag gelesen hat, weiss, was auf uns zukommt, falls die Gesetzesrevision in Kraft tritt. Wenn er oder sie zu denen gehört, die sich keine Organe entnehmen lassen wollen, wird er oder sie den Weg zu diesem künftigen Register finden. Aber: Wieviele Leute lesen solche Artikel? Es wird nie möglich sein, die Bevölkerung umfassend über die neue Gesetzeslage zu informieren. Dies wird schon an der heutigen Informationsflut scheitern und deshalb wird es sehr viele Uninformierte geben. Ihnen allen wird praktisch das Recht genommen, sich ihre eigene Meinung zu bilden darüber, was sie unter körperlicher Integrität verstehen und ob sich diese für sie auch auf ihren toten Körper bezieht, nicht nur auf den lebenden.
Damit wird die Menschenwürde dieser Uninformierten verletzt. Aber es wird eben auch die Menschenwürde der Informierten verletzt, denn auch für sie ist es unerträglich, dass man die eigene Menschenwürde nur dadurch schützen kann, dass man sich in einem Register einträgt. Soweit sollte es nicht kommen.
Auf https://organspende-nur-mit-zustimmung.ch
finden sich alle Angaben, wie der indirekten Organspende-Pflicht vielleicht doch noch Einhalt geboten werden könnte.
*) Botschaft des Bundesrates vom 25.11.2020