Bundesrat und Parlament wollen am Gotthard einen verfassungswidrigen zweiten Strassentunnel bauen. Dieses Vorhaben ist unnötig, teuer und ganz und gar unehrlich.
Mit dem Ja zur Alpeninitiative hat die Schweizer Bevölkerung Geschichte geschrieben. Kein anderes Land investiert so viel Geld in die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Rund 24 Milliarden Franken kostet der Bau der „Neuen Alpentransversale“ NEAT. Die umliegenden Länder haben sich zudem verpflichtet, den Güterkorridor Rotterdam-Genua mit eigenen Bahnausbauten zu stärken. Doch nun kommen aus der Schweiz plötzlich neue Signale. Mit dem Bau eines zweiten Strassentunnels sollen die Bahninvestitionen entwertet werden. Die Umsetzung der Alpeninitiative droht zu scheitern.
Bundesrätliche Seldwyla-Pirouetten
Alle Pläne zum Bau einer zweiten Strassenröhre am Gotthard waren bisher chancenlos, auch in den Kantonen Uri und Tessin. Doch nun will die Asphalt-Lobby mit einem Trick den Alpenschutz durchlöchern. Sie nimmt die anstehende Sanierung des Gotthardstrassentunnels zum Vorwand, um einen „Sanierungstunnel“ durch den Berg zu bohren. Beide Tunnels sollen in Zukunft einspurig betrieben werden. Eine Idee, die Bundesrätin Doris Leuthard noch im Jahr 2012 als „Seldwyla“ bezeichnet hat. „Wir bauen ja kaum 2 Tunnel und lassen je eine Spur leer. Das ist meines Erachtens scheinheilig.“ Genau diese scheinheilige Lösung will sie nun durchboxen. Es ist nicht die einzige Pirouette der Bundesrätin. Täglich werden frühere Aussagen auf den Kopf gestellt. Wer sich in die Abstimmung über die zweite Gotthardröhre vertieft, muss deshalb schwindelfrei sein. Denn noch nie haben die Behörden vor einer Volksabstimmung die Fakten so verdreht. Mal ist der heutige Tunnel in einem miserablen Zustand, dann ist er es wieder nicht. Mal preisen die Bundesbehörden eine leistungsfähige Verladelösung an, dann wollen sie nichts mehr davon wissen. Jeden Tag wird etwas anderes behauptet. Nur eines steht schon heute fest: Kaum jemand zweifelt daran, dass die zwei Tunnels ab 2035 vierspurig betrieben werden.
Eigentor für den Kanton Tessin verhindern
Die Auswirkungen wären gravierend. Denn nach der Beseitigung des Gotthard-Nadelöhrs würden doppelt so viele Lastwagen die kürzeste vierspurige Nord-Südachse in Europa nutzen. Dies bedroht insbesondere die Lebensqualität im Tessin. Schon heute leidet die Bevölkerung des Südkantons unter rekordhoher, gesundheitsschädigender Luftverschmutzung und Verkehrskollaps. Quer durch alle Parteien setzen sich deshalb viele Menschen für eine bessere Lösung ein. Vom Stadtpräsidenten von Chiasso (FDP) bis zum CVP-Ständerat Konrad Graber. Die besser Lösung ist bereits da: Die Eröffnung des NEAT-Basistunnels 2016 verkürzt nicht nur die Reisezeiten zwischen Nord und Süd. Sie schafft auch die Voraussetzung dafür, dass der bestehende Gotthard-Strassentunnel ohne Bau einer zweiten Röhre saniert werden kann. Ein temporärer Bahnverlad der Lastwagen und Autos ist im Winterhalbjahr problemlos machbar. Und erst noch 3 Milliarden Franken billiger als Bau und Unterhalt eines zweiten Strassentunnels. Nach einem Nein zum Gotthard-Bschiss kann deshalb dort investiert werden, wo der Verkehrsschuh am stärksten drückt: In den Städten und Agglomerationen.
Regula Rytz, Co-Präsidentin Grüne Schweiz, Nationalrätin, Mitglied Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen (KVF) und Vorstandsmitglied der Alpeninitiative
Nein zur Durchlöcherung des Alpenschutzes
Am 1. Juni 2016 wird der Eisenbahn-Basistunnel am Gotthard eröffnet. Das Jahrhundertbauwerk ist Symbol für verkehrspolitischen Weitblick in der Schweiz. Doch nun soll das Rad zurückgedreht werden.