Die 57. Filmtage beginnen am 19. Januar mit Nebel vor der Leinwand, worüber wir uns je nach Temperament wundern oder ärgern dürfen. Etwa darüber, dass trotz zahlreicher Diskussionsrunden eines der wichtigsten Probleme ausgeklammert bleibt.
Alle Soloturner Fasnachtsherzen bluten, weil pandemiebedingt keine Umzüge stattfinden. Einige Filmherzen hingegen hüpfen, weil die Filmtage durchgeführt werden. Doch nicht wenige wundern oder ärgern sich, auch in der Stadt. Denn die Leinwand-Veranstaltung ist aus gesundheitlicher Sicht so risikobehaftet wie die Kostüm-Veranstaltung. Lassen sich die Schutzmassnahmen in den Kinosälen noch einigermassen durchsetzen, dürfte es in den Restaurants schwierig bis unmöglich sein. Die Beizenbesuche vor und nach den Filmen erfreuen sich traditionell grösster Beliebtheit. Dieses Mal gemeinsam mit dem geselligen Virus.
Forsch voran
Wenn also Bundesrat Alain Berset wie angekündigt die Filmtage mit einer Rede eröffnet, mutet er dem Differenzierungsvermögen des Publikums für die subtile Unterscheidung zwischen ihm als Kulturminister, der die Präsenz à la légère rechtfertigen kann, und als Gesundheitsminister, der als gutes Beispiel fernbleiben sollte, eine harte Probe zu. Vielleicht trainiert er vorher bei Sportministerin Viola Amherd den Spagat.
Verrenkungen wären uns erspart geblieben, hätten sich die Verantwortlichen an ihrem letztjährigen Entscheid orientiert, nämlich auf die physische Durchführung zu verzichten und das Programm online anzubieten. Umso mehr, als die digitale Ausgabe exzellent über die Monitore lief und alles andere als eine halbbatzige Notlösung war – alles andere.
Pionierleistung
Die SRG übertrug die Eröffnung live in der deutschen, französischen und italienischen Schweiz. Die Filme erreichten 95’000 Personen, die Gespräche und Online-Events über 12’000. Die Website wurde während der Filmtage von 57’000 verschiedenen Besucherinnen und Besuchern angeklickt. Die Resonanz in der Romandie verstärkte sich. Finanziell schloss die Rechnung, wie bereits 2020, mit schwarzen Zahlen ab.
Die Online-Veranstaltung wird im präsidialen Vorwort zum Jahresbericht denn auch stolz als Pionierleistung mit Modellcharakter für Wiederholungen gewürdigt: Die «zentralen Voraussetzungen für den umfassenden Erfolg dieser historischen Online-Edition, welche den Solothurner Filmtagen rundum viel Lob und Anerkennung einbrachte», seien von Direktorin Anita Hugi entwickelt worden. Dank ihrer «ausgewiesenen Kenntnis digitaler Vermittlungsmöglichkeiten», ihres «Wissens um das Wesen eines Festivals als Begegnungsort sowie der frühzeitigen Schaffung einer neuen Website und digitalen Filmplattform».
Wegen Feu sacré gefeuert
Diese verdiente Laudatio ist bedauerlicherweise auch eine Nebelschwade. Sie verdeckt die andere Hälfte der Wahrheit.
Denn die Direktorin mit Feu sacré wurde von den Filmtagen gefeuert. Genauer: Vom Vorstand. Noch genauer: Vom Vorstand ohne Alt-Ständerat Felix Gutzwiller, der als Präsident zurücktrat wie Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider und Nationalrätin Regine Sauter als Mitglieder.
Über den Gründen für die in der Öffentlichkeit Entsetzen auslösende und das Ansehen der Filmtage ramponierende Kündigung liegt dicker Nebel. Der Rest-Vorstand will schweigen. Anita Hugi muss schweigen. Das Bundesamt für Kultur schwieg auf seine Art nicht. Es kürzte bereits bewilligte Gelder und verlangt von den Filmtagen eine Strukturreform, die den organisatorischen und ethischen Prinzipien der „Good Governance“ entspricht. Ein Scharfschuss vor den Bug.
Statuten für den Papierkorb
Der Aufbruch zum modernen Management wäre für eine Organisation mit einem Drei-Millionen-Budget und hundert Fest- und Temporär-Angestellten längst notwendig gewesen. Die Statuten des Trägervereins „Schweizerische Gesellschaft Solothurner Filmtage“ regeln weder die Befugnisse des Vorstandes noch jene der Geschäftsleitung mit gebührender Klarheit. Dass beiden Organen erlaubt ist, die Filmtage nach aussen zu vertreten, garantiert im Kompetenzsalat den Streit. Das stillschweigend gewährte Recht, sowohl im Vorstand als auch in der Geschäftsleitung mitzuwirken, vermischt kontrollierende und ausführende Funktionen und hebt die Gewaltentrennung auf. Zu den direktorialen Zuständigkeiten und Rapportierungspflichten findet sich in den Statuten kein Wort.
Weitere Irritationen passen zu Statuten, die vereinsrechtlich Latte um Latte reissen, Zwar nennt sich die Trägergesellschaft „schweizerisch“, aber dem Vorstand gehört niemand an, der in der Romandie lebt. Das trifft ebenfalls auf die Geschäftsleitung zu. Zehn der vierzehn Mitglieder stammen aus Solothurn. Die Geborgenheit unter Gleichgesinnten fördert das Vertrauen ins Geben und Nehmen, die Leichtigkeit fürs Werfen von Nebelpetarden und obendrein die gemütliche Kontinuität.
Trott und Treue
Ein Viertel der gegenwärtigen Vorstands- und Geschäftsleitungsmitglieder stellt die Kraft den Filmtagen seit mehr als dreissig Jahren zur Verfügung, über die Hälfte seit mehr als fünfzehn Jahren. Da sammelt sich viel an eingespielter Routine und halt wenig an Erneuerungswillen.
Er wäre dringend. Diese Einsicht hätte den Rest-Vorstand davor bewahrt, die Direktorin ohne jedes Gefühl für Anstand und die Aussenwirkung in die Wüste zu schicken.
Frischluft ist Zugluft
Weil ein Unheil selten allein kommt, ist das nächste bereits programmiert. Die Filmtage laden zu zwei Dutzend Gesprächs- und Begegnungsrunden ein, verpassten aber die Chance, eine Diskussion über die Strukturreform und die künftige konzeptionelle Ausrichtung zu organisieren. Beide Themen sind eminent wichtig und hätten aus Gründen der Glaubwürdigkeit zu einem Einbezug der Filmschaffenden und überhaupt des Publikums verpflichtet.
Das Versäumnis verrät die Absicht, im intimen Kreis der loyalen Weggefährten und verborgen hinter einer Nebelwand über die Zukunft reden und entscheiden zu wollen. Ohne Interesse an der Kritik und den Erwartungen von Aussenstehenden. Frischluft ist Zugluft. Das Know-how als lokales Eigengewächs liefert ja Ideen in Hülle und Fülle.
Verblassender Schwung und Glanz
Zu Beginn und noch lange Jahre später waren die Filmtage profiliert und provokativ, aufs Experiment und Neue versessen wie der jungen Schweizer Film, für den sich Solothurn mit Feuer und Flamme engagierte. Auch 2020 und 2021 als Zwischenhoch.
Insgesamt wurde die leider zum Festival mutierte Werkschau behäbig, borniert und perspektivlos wie der alte Schweizer Film, den sie einst couragiert zu überwinden half. In der Logik der Erstarrung brachte sich der Rest-Vorstand wohlweislich vor seiner Direktorin in Sicherheit.