Für den Tod des bekanntesten russischen Oppositionellen Alexei Nawalny trägt Russlands unumschränkter Machthaber Wladimir Putin die eigentliche Verantwortung. Schon 2020 war er einem Giftanschlag des Geheimdienstes knapp entkommen. Es gibt keine Zweifel, dass jener Mordversuch nicht ohne Putins Plazet lanciert worden ist.
Es mag sein, dass Putin den am Freitag bekanntgegebenen Tod Nawalnys in einem Straflager jenseits des Polarkreises nicht unmittelbar veranlasst hat und dass ihm dieser Todesfall zum jetzigen Zeitpunkt politisch vielleicht eher ungelegen kommt.
Der missglückte Mordanschlag von 2020
Doch Putin ist fraglos direkt verantwortlich für die total willkürliche Verurteilung und die drakonischen Haftbedingungen für den bekanntesten und bis zu seiner Festnahme effizientesten Kreml-Kritiker in Russland. Der Umgang mit diesem politischen Störefried und unerschrockenen Herausforderer des obersten Machthabers zielte unübersehbar darauf ab, etwaige Nachahmer oder Gefolgsleute Nawalnys abzuschrecken, zum Verstummen zu bringen oder ins Ausland zu vertreiben. Das ist dem Regime seit der Festnahme des Kritikers vor vier Jahren dank immer härterer Repression auch weitgehend gelungen.
Doch dass Putin grundsätzlich in keiner Weise davor zurückschreckte, den Tod Nawalnys nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern bewusst herbeizuführen, beweist die missglückte Geheimdienstoperation gegen den unbequemen Kritiker im Sommer 2020. Damals hatten Kremlagenten versucht, Nawalny während dessen Heimreise von einer Kontaktnahme mit Gefolgsleuten in Sibirien mit dem tödlichen Nervengift Nowitschok zu vergiften. Nur durch eine von den Agenten nicht vorausgesehene Rettungsaktion konnte die volle Ausbreitung der tödlichen Substanz verhindert und sogar ein Transport des schwer angeschlagenen Patienten nach Berlin organisiert werden.
Putins «Vertikale der Macht»
Wenn man das von Putin selbst immer wieder deklarierte Prinzip von der «Vertikale der Macht» im heutigen russischen Regierungssystem im Auge behält, kann es nicht den Hauch eines Zweifels geben, dass der Kremlchef persönlich jene Vergiftungsaktion gegen den verhassten Kritiker, dessen Namen er selber nie öffentlich in den Mund genommen hat, abgenickt hatte.
Ebenso ist für jeden halbwegs realitätsnahen Beobachter des heutigen Putinschen Herrschaftssystem glasklar, dass Nawalny nach seiner Rückkehr aus Berlin Anfang 2021 auf ausdrückliche Anordnung Putins auf dem Moskauer Flughafen sofort festgenommen wurde. Seither hat Nawalny keinen Tag mehr als freier Bürger gelebt. Er wurde in einer Reihe gestaffelter, völlig willkürlich inszenierter Gerichtsverfahren auf Grund ebenso abstruser «Extremismus»-Vorwürfe zu mehr als zwanzig Jahren Straflager verurteilt. Sein letzter Aufenthaltsort in einem Straflager mit verschärften Bedingungen befindet sich rund 1800 Kilometer nordöstlich von Moskau, jenseits des Polarkreises.
Ob Nawalnys damalige Entscheidung zur Rückkehr nach Moskau ein Fehler war, darüber kann man lange streiten. Aus seiner Sicht war die Entscheidung konsequent. Der mutige Kritiker wollte seinen Kampf gegen das repressive Regime nicht auf Sparflamme weiterführen. Er war sich bewusst, dass er als einer von vielen Kritikern im Ausland sehr viel weniger Möglichkeiten haben würde, das Regime herauszufordern. Vielleicht hat er sich später im Gefängnis damit getröstet, dass er als prominenter Gefangener eher ein unbequemer Stachel im Fleisch des Kremlherrn sein werde, denn als Emigrant im Westen.
Videos über Korruption im Kreml für ein Millionenpublikum
Weshalb entschlossen sich Putin und seine Schergen, den Regimekritiker Nawalny mit derart rigorosen Methoden, die jeder Rechtsstaatlichkeit spotten, so gnadenlos zum Schweigen zu bringen? Offenkundig war der Kreml über die unkonventionellen und zeitweise erstaunlich effizienten Mobilisierung- und Informationsmethoden des politischen Aussenseiters ernsthaft beunruhigt und verärgert.
Die verschiedenen Dokumentar-Videos, die Nawalny mit seinen Mitarbeitern zu den korrupten Bereicherungen hoher Regierungsvertreter über Youtube und andere Kanäle verbreitete, wurden im In- und Ausland von einem Millionenpublikum konsumiert. Allein sein letztes grosses Enthüllungsvideo über einen märchenhaften Luxuspalast am Schwarzen Meer, der über zahlreiche Vermittlungsleute gebaut und Putin zur Verfügung gestellt worden sein soll, haben sich über hundert Millionen Zuschauer zu Gemüte geführt. Eine nachvollziehbare juristische Auseinandersetzung über die Authentizität dieser spektakulären Dokumentationen hat es in Putins Russland bisher nicht gegeben.
Ermordung früherer Putin-Kritiker
Der plötzliche Tod des 47-jährigen Häftlings Nawalny ruft in Erinnerung, dass in den vergangenen Jahren eine Reihe anderer Putin-Kritiker, die es im In- und Ausland zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hatten, unerwartet und ohne überzeugende Aufklärung ums Leben gekommen sind. Zu ihnen zählt die Journalistin Anna Politkowskaja, eine hartnäckige Kritikerin von Putins Zerstörungskrieg in Tschetschenien. Sie wurde 2006 im Hausgang zu ihrer Moskauer Wohnung erschossen. Fünf Männer aus dem Umkreis des tschetschenischen Machthabers Kadyrow, den Putin als seinen Statthalter stützt und finanziert, wurden später verurteilt, aber die Auftraggeber der Mordtat blieben im Dunkeln.
Ähnliches gilt für den Mord an Boris Nemzow, einem zeitweise hohen Regierungsmitglied unter Präsident Jelzin und späteren Herausforderer Putins, der 2015 in der Nähe der Kremlmauer erschossen wurde. Weitere offenkundig von Putins Geheimdiensten inszenierte Mordanschläge betreffen den abtrünnigen russischen Spion Litwinenko, der in London vergiftet wurde und den Ex-Militärgeheimdienstler Skripal. Er und seine Tochter überlebten 2018 eine Nowitschok-Vergiftung ebenfalls in England nur ganz knapp .
Erinnerung an das Vorgehen gegen Solschenizyn und Sacharow
Vergleiche drängen sich aber auch auf zwischen dem Fall Nawalny und dem Umgang des späten Sowjetregimes mit seinem damals berühmtesten Kritiker, dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Solschenizyn war dank seiner Bücher über die Realität in den Stalinschen Gefangenenlagern seit den 1960er Jahren eine Weltberühmtheit. Vor genau 50 Jahren, Anfang 1974, veröffentlichte er im Westen seine monumentale Beschreibung und Dokumentation über dieses Lagersystem unter dem Titel «Der Archipel Gulag». Das kommunistische Breschnew-Regime beriet angestrengt darüber, wie man diesen prominenten Dissidenten loswerden könnte. Er wurde schliesslich in ein Flugzeug gesetzt, das ihn nach Deutschland zu seinem Schriftstellerkollegen Heinrich Böll brachte.
Bald darauf sollte auch der dissidente Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow zum Schweigen gebracht werden. Man deportierte ihn von Moskau nach der Stadt Gorki an der Wolga, die heute wieder Nischni Nowgorod heisst, wo er sich aber relativ frei bewegen konnte.
Gegen diese beiden prominentesten Kritiker des späten Sowjetregimes wurden somit ungleich glimpflichere Repressionsmethoden gewählt als Putin sie gegen seinen zeitweise effektvollsten Herausforderer Alexei Nawalny eingesetzt hat. Ob der jetzige Machthaber im Kreml je für seine gewissenlose Vernichtung Andersdenkender zur Rechenschaft gezogen wird, kann niemand voraussagen.